Piwik Webtracking Image

Essen : Immer die Kohle

Die Ruhrgebiets-Metropole berappelt sich wieder

04.10.2016
2023-08-30T12:30:08.7200Z
4 Min

Es gibt Menschen, die interessiert Geld herzlich wenig. Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen und Stadtkämmerer Lars-Martin Klieve (beide CDU) gehören nicht dazu. Vor allem der Stadtkämmerer hat innerhalb von sieben Jahren geschafft, was nach Lage aller Vorurteile über die "Schuldenhauptstadt Deutschlands", über Essen, unmöglich schien: Der städtische Haushalt 2017 weist zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert ein kleines Plus von acht Millionen Euro auf. Das inoffizielle Zentrum des Ruhrgebiets lebt nicht mehr über die Verhältnisse. Passend zum neuen Lebensgefühl, nicht mehr nach der Kohle fragen zu müssen, schmückt 2017 der Ehrentitel "Grüne Hauptstadt Europas". Und im Bal- deneysee soll ein großes Naturschwimmbad eröffnet werden, weil sich die Schadstoffbelastung der Ruhr deutlich verringert hat.

Wenn jetzt niemand kommt und die Kommune von ihrem Weg abbringt, werden die Überschüsse in den kommenden fünf Jahren auf mehr als 75 Millionen Euro steigen. Aber im Hintergrund warten 3,7 Milliarden Euro Altschulden auf Tilgung - ein fast unmögliches Vorhaben. Für Klieve ist aber wichtig: Ab sofort läuft die Essener Schuldenuhr rückwärts. Noch lasten 5.736,29 Euro auf jedem Essener - egal ob neu geboren oder in Ehren vergreist.

Wirtschaftswunder Rückblick: Anfang der 1960-er Jahre strotzte Essen vor Kraft. Wirtschaftswunder? Das fand gleich vor der Haustür statt. Große Energie- und Stahlunternehmen füllten das Steuersäckel der Stadt. Krupp, Thyssen und Co standen zudem für großzügiges Mäzenatentum. Die Luft war schlechter, die Laune der Menschen aber besser als heute; wenigstens im verklärenden Rückblick. Was in der "Herzkammer der Sozialdemokratie" allerdings in den folgenden vier Jahrzehnten ignoriert wurde, war der beständige Niedergang von Kohle und Stahl. Bis 2002 verlor die Stadt mehr als 150.000 Einwohner. Dennoch regierten Politik und Verwaltung nicht mit einer Anpassung der Apparate, sondern erfüllten weiterhin Wünsche.

Mehr noch: Die Essener konzentrierten sich ganz auf den Bau von Sozialwohnungen. Das macht das Leben in der Stadt noch heute überaus erschwinglich. Durchschnittlich verlangen Vermieter 6,20 Euro pro Quadratmeter, hat das Portal Immowelt ausgerechnet und bundesweit verglichen. Das ist für deutsche Metropolen vergleichsweise billig. Mittlerweile wächst die Stadt Essen wieder.

Die einseitige Ausrichtung auf günstigen Wohnraum hat jedoch finanzkräftige Familien ins Umland südlich der Stadt getrieben. Sie bauten dort ihr Häuschen, zahlen dort ihre Steuern und pendeln täglich nach Essen rein. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen der Essener liegt nach Angaben der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) bei 40.848 Euro - und damit rund 4.000 Euro unter dem Bundesdurchschnitt. Die Arbeitslosenquote lag Ende Mai bei 11,8 Prozent - über dem Durchschnitt. Aus Haushaltssicht eine denkbar schlechte Kombination.

In den 1990er Jahren kam zu den eigenen Fehlern die finanzielle Kaltschnäuzigkeit des Bundes hinzu. Nach der deutschen Einheit wurde eine ganze Reihe von Sozialgesetzen erlassen, deren finanzielle Folgen die Kommunen schultern mussten. Mehr als 700 Millionen Euro Sozialkosten schlagen in Essen zu Buche. "Wir haben 25 Jahre lang über unsere Verhältnisse gelebt", analysiert Kämmerer Klieve knochentrocken. Als er 2009 - von der Stadt-Sparkasse Gelsenkirchen kommend - den Stuhl des Essener Kassenwartes bestieg, verweigerte er erst einmal die Unterschrift unter dem bereits fertigen Haushalt für das Folgejahr.

Von nun an wurde konsequent gespart. Die Zahl der städtischen Bediensteten schrumpfte um knapp 700 Stellen. Die städtische Philharmonie und Bühne bekommen 40 statt 45 Millionen Euro Zuschuss pro Jahr. Die Zahl der städtischen Bäder sank von 16 im Jahr 2009 auf 14 - mit geänderten Öffnungszeiten. "Ein 'Kahlschlag', der mir immer vorgeworfen wird, sieht anders aus", sagt Klieve.

Zudem ist Essen an mehr als 70 Gesellschaften beteiligt, denen ein striktes Spardiktat auferlegt wurde. Am Beispiel des neuen Stadions für den Viertligisten Rot-Weiß Essen zeigt sich, dass Klieve mit seinem Maßhalten nicht überall in der Stadt Gehör fand. Schon der Bau der von vielen als überdimensioniert empfundenen Arena verteuerte sich gegenüber dem ursprünglichen Ansatz deutlich. Ohne Absprache wurden Mittel, die eigentlich zum Erhalt des Folkwang-Museums eingeplant waren, für das Stadion ausgegeben.

Trotz solcher Verwerfungen bleibt der Etat auf Kurs. Klieve will nicht als der alleinige Urheber des Haushaltswunders von Essen dastehen: "So etwas gelingt nur, wenn alle in der Verwaltung mitmachen, wenn die Politik entsprechende Beschlüsse fasst und die Rahmenbedingungen günstig sind." Damit meint er die niedrigen Zinsen, die das Schuldenjoch ebenfalls leichter gemacht haben. Der Bund hat die Kommunen in den vergangenen Jahren zudem bei den Sozialausgaben entlastet. Und beteiligt sich an den Kosten für die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen, die 2015 einen Nachtragshaushalt erforderlich machten.

Kraftakt Mit der Integration von Flüchtlingen kommt der nächste große Kraftakt auf Essen zu. Vor allem in den ärmeren Stadtteilen des Nordens mehren sich Stimmen, die vor einer Überbeanspruchung der Essener Hilfsbereitschaft warnen. Ein SPD-Kommunalpolitiker trat sogar zur AfD über. Gäbe es noch Telefonbücher, dann könnten sich viele davon überzeugen, dass Essen bereits einmal eine enorme Integrationsleistung vollbracht hat. Von den polnischen Kohle- und Stahlarbeitern, die Ende des 19. Jahrhunderts in die Stadt kamen, sind nur noch deren fremd klingende Namen geblieben. Sie gehörten spätestens ab der zweiten, in Essen lebenden Generation fest zum Pott.