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GESCHICHTE : Politikum in Bronze

100 Jahre Schriftzug »Dem deutschen Volke« am Reichstagsgebäude

05.12.2016
2023-08-30T12:30:11.7200Z
2 Min

Formuliert gegen den Unmut des Kaisers, gegossen aus Kanonenkugeln der Befreiungskriege, hergestellt von einem jüdischen Familienunternehmen. Zum 100. Jahrestag der Inschrift "Dem deutschen Volke" lohnt ein Blick zurück. Als die Bronzebuchstaben im Dezember 1916 über dem Westportal des Reichstagsgebäudes angebracht wurden, war eine lange Diskussion vorangegangen. Nicht nur, dass sie erst 22 Jahre nach Fertigstellung des Reichstages montiert wurden - auch ihre Gestaltung war Teil eines Diskurses um Nationalismus und Parlamentarismus.

Schon nachdem das Portal 1894 bei Fertigstellung des Gebäudes leer blieb, hatte die Öffentlichkeit vermutet, Kaiser Wilhelm II. lehne die Inschrift wegen seiner Distanz zum Parlamentarismus ab. Die Reichsregierung dementierte dies und suchte nach Alternativen. Für "Dem deutschen Reich" entschied sich 1895 die Reichstagsbaukommission, der Kaiser soll "Der deutschen Einigkeit" bevorzugt haben. Umgesetzt wurden die Ideen jedoch nicht. 20 Jahre später gewann die Frage angesichts des verlustreichen Ersten Weltkriegs erneut an Bedeutung. Um Diskussionen zu vermeiden und einem Vertrauensverlust des Volkes in Regierung und Monarchie entgegenzuwirken, stimmten die Reichstagsabgeordneten für die ursprüngliche Idee des Architekten Paul Wallot: "Dem deutschen Volke".

Wie auch seine Bedeutung war der Schriftzug selbst ein Politikum. Der Architekt Peter Behrens schuf die 60 Zentimeter hohen Großbuchstaben aus Bronze. Damit umging er nicht nur die Frage nach der Groß- und Kleinschreibung des Adjektives "deutsch". Auch in der Schriftart wählte er eine Mischung zwischen der klassisch-römischen Capitalis und der in Deutschland gebräuchlichen, gebrochenen Frakturschrift, um alle Vorstellungen einzubinden.

Lange Zeit war nicht bekannt, dass die Ausführungen der Bronzearbeit vom jüdischen Familienbetrieb Loevy übernommen wurden. Die Schrift wurde aus Kanonenkugeln gegossen, erbeutet in den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Ernst Loevy und weitere Mitglieder der Familie wurden später von den Nationalsozialisten ermordet.

"Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals im Bundestag selbst eine Beschäftigung mit der Frage gegeben hat, welche Bedeutung die Widmung hat, die dieses Gebäude trägt", sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert in der vergangenen Woche zum Auftakt eines hochrangigen Kolloquiums. Unter dem Titel "Dem deutsche Volke. Dem deutschen Volke?" diskutierten die Wissenschaftler Richard Schröder, Dieter Grimm, Lamya Kaddor, Ruud Koopmans und Christoph Möllers über das Verhältnis von Nationalstaat , Volk und Demokratie.