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Essay : Älter als der Staat

Die Ehe als Glücksverheißung ist erst ein Kind der Neuzeit. Ein Streifzug durch die Geschichte der Familie

07.08.2017
2023-08-30T12:32:25.7200Z
5 Min

Die Familie ist älter als der Staat. Wie bei jeder sozialen Einrichtung wandelten sich im Laufe der Geschichte ihre äußeren Formen. Aber unerschüttert über fast drei Jahrtausende blieb der Grundsatz, dass der Staat sich möglichst nicht in diese Ordnung eigenen Rechts einmischen solle. Das änderte sich erst ab der Französischen Revolution. Mit ihr wurde das Glück, auch das ganz private, zu einer Staatsaufgabe, um eine gleichmäßige Glücksverteilung zu erreichen. Jede Politik kann mittlerweile nur noch erfolgreich sein, wenn sie Glücksverheißungen in ihrem Angebot hat und dauernd bemüht ist, "die Menschen" nicht in ihren Erwartungen zu enttäuschen, weitgehend frei von Schmerz und Martern aller Arten zu leben. Der selbständige Bürger des Rechtsstaates ist daher nahezu verschwunden. Es gibt vorzugsweise sorgfältig zu betreuende Mitmenschen, denen ununterbrochen Orientierungshelfer versichern, dass das Leben der Güter höchstes ist. Auf ihren berechtigten Anteil an der Freude schöner Götterfunken, dem Lebenselixier schlechthin, dürfen alle hoffen. Zum Staatszweck ist der totale Wohlstand in der Gleichheit der Lebensverhältnisse geworden.

Die unübersichtlichen Forderungen nach gemütsstabilisierender Glückseligkeit unterscheiden die allerneueste Neuzeit von sämtlichen Epochen in der bekannten Geschichte. Ehe und Familie, heute mit Liebe und allerlei andere Wonnen versprechenden Gefühlen untrennbar verbunden, waren früher als soziale Einrichtungen eine viel zu ernste Angelegenheit, um sie mit vagabundieren Sehnsüchten zu vermischen. Für jedermann unter klassischen Heiden, Christen oder Muslimen äußerten sich darin höchstens egoistische Unvernunft und verantwortungsloser Leichtsinn, die unweigerlich die öffentliche Ruhe durcheinander bringen mussten. Denn das Haus als das innere Reich der Familie hatte nichts mit den Seelenschwingungen von Gatten, von Vater, Mutter und Kind zu tun. In ihm sollte sich mitten im Lärm der aufgeregten Zeiten eine ganz eigene Sphäre der Ordnung und des Friedens bewähren, die zugleich Wirtschaftsbetrieb, Rechts - und Kultgemeinschaft war und mannigfache Mitarbeiter sowie Gast - oder Geschäftsfreunde umfasste.

Deshalb ging es vor allem um Ehre und Ansehen, also um den guten Ruf des Hauses in der Öffentlichkeit. Diese Hausgemeinschaft, eine Gesellschaft im Kleinen, war wie jede gesellschaftliche Institution auf Zuverlässigkeit, Rechtschaffenheit, Selbstbeherrschung und Disziplin angewiesen. Sie beruhte auf der Dankbarkeit, die jeder Hausgenosse den Göttern, später dem christlichen Gott, als Hütern des häuslichen Friedens schuldete und auf der Loyalität gegenüber dem Hausherrn und der Hausfrau, deren Umsicht eine bekömmliche Hausordnung ermöglichte. Ehen wurden nicht im Himmel geschlossen, sondern aus praktischen Erwägungen heraus, um die Wirtschaftskraft, die Macht und die Bedeutung des Hauses durch Familienbündnisse und kluge Hauspolitik zu mehren, zu erhalten oder wieder zu erneuern. Der Wunsch nach erotischer Verspieltheit oder leidenschaftlicher Nähe, gar die heute inständig gepflegte Subjektivität, eigene Seelenzustände und die geliebter Personen zu zergliedern und zu besprechen, hatten früher in der Familie nichts zu suchen. Denn sie konnten das immer labile Gleichgewicht häuslicher Eintracht nur gefährden.

Heiden, Christen und Muslime misstrauten überschwänglichen Gefühlen. Vernunft sei überall zugegen, wo Leben sich des Lebens freut. So hieß es in immer neuen Variationen durch die Jahrtausende. Ein gut geführtes Haus galt als ein Abbild weltkluger Ordnung. Das setzte unter Respektspersonen voraus, einander nicht in peinliche Situation zu bringen. Ein Ehemann, der seine Frau mit Künsten überraschte, die im Umgang mit Hetären oder Dirnen üblich waren, verletzte deren Würde und den guten Geschmack. Wollte eine anständige Hausfrau in Athen oder Rom mehr als drei Mal im Monat ehelicher Vergnügen teilhaftig werden, bekundete sie einen Mangel an Ehrbarkeit. Eheleute sollten nicht ein Herz und eine Seele werden, sondern sich bemühen, im anderen freundschaftlich dessen Andersartigkeit zu achten und auf diese Art die unvermeidlichen Spannungen erträglich zu machen. Leben und Zusammenleben ist immer dramatisch. Für die Ungeduld des Herzens und die daraus sich entwickelnden Wirren war die Schaubühne mit ihren Komödien und Tragödien zuständig, nicht das Ehebett. Diese Einstellung bewahrte allerdings die meisten Ehen vor Beziehungsdramen und nervöser Effekthascherei, für die selbst ungebildete Bauern ein untrügliches Gespür besaßen. Eine verträumte Gänsehüterin war einfach fehl am Platz. Nach eigenem Willen zu leben, authentisch zu sein, ganz sich selber hingegeben, in zärtlicher oder drastischer Verliebtheit in die Liebe, beförderte nur die Zerstörung der Vernunft und die Institutionen Ehe und Familien. Die Ehe für alle war noch kein Ideal.

Heidnischer Ahnenkult Sklaven im demokratischen Athen, die Mehrheit der Bevölkerung, durften nicht heiraten, Ehen waren nur unter attischen oder römischen Bürgern gestattet. Bei sehr vornehmen Ausländern gab es Ausnahmen. Die frühen Christen, die jeden aufforderten, Vater und Mutter zu verlassen, witterten in der Familie wegen des heidnischen Ahnenkultes überhaupt eine Gefahr und wollten die Familienallianzen und deren Einfluss brechen. Die Kirche erließ Eheverbote mit nahen oder geistlichen Verwandten, wie den Paten oder den Priestern als Vätern der Gläubigen. Sie empfahl die Ehelosigkeit und die Abkehr von der Familie, darin einig mit den stoischen Philosophen und vielen von der Steuerlast bedrückten heidnischen Bürgern in der Absicht, möglichst allein zu bleiben und sich nicht Sorgen aufzubürden, ohne die es sich leichter leben ließ. Der Verzicht auf eheliche Bindung war schon lange vor den Christentum zur verbreiteten Mode geworden. Kinder waren während der Antike nie sonderlich erwünscht. Zwei wurden als ausreichend gehalten, übrigens auch von der Kirche. Erste staatliche Versuche seit Kaiser Augustus, wegen eklatanten Menschenmangels mit Kindergeld und weiteren Subventionen die Zahl der Geburten zu erhöhen, blieben vergeblich. So behalfen sich die Regierungen später mit Massenansiedlungen von Germanen und Slawen, die in Parallelgesellschaften für Nachwuchs sorgten.

Auch unter Christen konnte nur der eine Familie gründen, der in der Lage war als selbständiger Bauer oder Handwerker sie auch zu unterhalten. Die Männer heiraten spät und sehr viele heirateten nie, weil sie sich den heiligen Ehestand gar nicht leisten konnten. Zölibatär lebten also nicht nur die geistlichen Personen, sondern fast die Hälfte der Gesellschaft. Das heute sogenannte Singledasein war eine vertraute Selbstverständlichkeit. Ebenso normal war die heutige patchwork-family. Aufgrund der frühen Sterblichkeit und der häufigen Zweit- und Drittehen, konnte es oft vorkommen, dass die Kinder im Hause weder unter sich noch mit den Stiefeltern verwandt waren. Es lag daher nahe, dass sie früh das Haus verließen und ihre Familie nicht sonderlich vermissten. Im Gegensatz zu populären Vorstellungen herrschte eine erstaunliche Mobilität vom sogenannten Mittelalter bis zum späten 18. Jahrhundert, nicht zuletzt weil die Familienbande sehr locker und eben keine Fesseln waren. Erst in der bürgerlichen Epoche kamen die Empfindsamkeit, die Sentimentalisierung und Romantisierung der Kleinfamilie auf, in der die so eng miteinander Verflochtenen bald wegen der emotionalen Ansprüche überfordert waren. Es meldeten sich die überspannten Nerven, die Langeweile und endlich der Überdruss an der von so viel aufdringlicher Liebe erfüllten kleinen Welt. Die bürgerliche Ehe und Familie löste sich im 20. Jahrhundert als Institution auf. Sie wurde zu einer privaten Veranstaltung, die gar nicht mehr in der Lage und willens ist, mit ihren eigenen Angelegenheiten fertig zu werden. Dafür braucht sie den Staat und die öffentlichen Mächte, die sinnstiftend von der Wiege bis zum Sarg mit ihren Empfehlungen oder Befehlen für seelische und körperliche Gesundheit in ihrem Sinne sorgen.