Piwik Webtracking Image

interview : »Reformen wurden sträflich vernachlässigt«

Thomas Hellmann, Experte bei der Bertelsmann-Stiftung, sieht schwere Versäumnisse der EU-Staaten im Bildungsbereich

04.12.2017
2023-08-30T12:32:30.7200Z
3 Min

Herr Hellmann, in einer Studie hat die Bertelsmann-Stiftung die Reformbemühungen der EU-Mitgliedstaaten in sechs Politikfeldern, darunter auch der Bildungspolitik, untersucht. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Unser Reform Barometer beruht auf einer Expertenbefragung, an der rund 1.050 Sozialforscher aus ganz Europa teilgenommen haben. Sie waren aufgefordert, Reformbedarfe und -aktivitäten sowie erwartete Effekte im Zeitraum von Juli 2014 bis Januar 2016 einzuschätzen. Gezeigt hat sich, dass Europas Regierungen das Politikfeld Bildung ziemlich vernachlässigt haben. Sie haben trotz drängenden Reformbedarfs viel zu wenig getan, um faire und gleiche Bildungschancen für alle Bevölkerungsgruppen zu gewährleisten.

Wo liegen die größten Probleme?

Die EU-Mitgliedstaaten haben vor allem den Bereich "Lebenslanges Lernen" sträflich vernachlässigt. In zehn Ländern konnten die Experten diesbezüglich überhaupt keine Reformbemühungen berichten. Außerdem hängt nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Staaten der Lernerfolg von Schülern und ihr Zugang zu Bildung weiterhin stark von der sozialen Herkunft ab. Insgesamt wurde hier nur knapp ein Drittel des Reformbedarfs adressiert. In sechs Ländern - Kroatien, Finnland, Griechenland, Ungarn, Slowakei und Spanien - haben die Regierungen überhaupt nichts getan, um für mehr Durchlässigkeit der Bildungssysteme zu sorgen. Das ist alarmierend; schließlich führt ein Mangel an sozialer Aufwärtsmobilität im Bildungssektor dazu, dass die soziale Kluft zunimmt und Armutskarrieren fast sicher weitervererbt werden.

Wie steht Deutschland im europäischen Vergleich da?

Bildung ist in Deutschland das Politikfeld, in dem die Experten die größte Reformlücke sehen. Nach Einschätzung der Befragten wurde nur knapp ein Fünftel des Reformbedarfs angegangen. Dabei wird dringender Bedarf in zahlreichen Punkten gesehen. Vor allem geht es darum, die Unabhängigkeit des Bildungserfolgs vom sozialen Hintergrund der Schüler zu gewährleisten, Flüchtlinge besser ins Bildungssystem zu integrieren und die finanzielle sowie personelle Ausstattung im Bereich der frühkindlichen Bildung zu verbessern. Zwar sind die formalen Zugangschancen in den vergangenen Jahren - insbesondere bei der frühkindlichen Bildung - verbessert worden, doch besteht in Deutschland weiterhin ein deutlicher Nachholbedarf, auch faktisch gleiche Bildungschancen für sozial benachteiligte Kinder zu gewährleisten.

Sie haben die Flüchtlinge angesprochen: Ist ihr Zugang zu (Aus-)Bildung in Europa tatsächlich so schlecht?

Die Experten stellen den Regierungen in auch diesem Punkt kein gutes Zeugnis aus. Gerade bei den EU-15-Staaten, also jenen, die schon vor der sogenannten Ost-Erweiterung im Jahr 2004 Mitglied waren, sehen sie bei der Integration von Migranten und Flüchtlingen eine große Notwendigkeit, mehr zu tun. Bei den Ländern, die nach 2004 beigetreten sind, ist der Reformdruck geringer, weil dort auch die Flüchtlingszahlen geringer sind. Insgesamt muss man sagen: Der Zustrom von Millionen Flüchtlingen in die EU hat zwar einen wachsenden Bedarf an Integrationsbemühungen ausgelöst, doch die Eingliederung von Migranten in die Gesellschaft stellt schon seit Gründung der EU eine große Herausforderung für Europas Regierungen dar.

Welche Länder fallen in der Studie besonders positiv auf?

Da sticht insbesondere Malta hervor. Die dortige Regierung hat ein "Alternatives Lernprogramm" zur Reduktion der Anzahl an Schulabbrechern eingeführt sowie kostenfreie Kinderbetreuungseinrichtungen. Außerdem wurde die Ausbildung von Vorschullehrern verbessert. Abend- und Onlinekurse wurden etabliert, um ein flexibles Studieren zu ermöglichen. Malta war aber nicht nur sehr aktiv in Sachen Bildung, vielmehr wird auch die Qualität der umgesetzten Neuerungen von den Experten sehr positiv bewertet.

Besonders schlecht kommt dagegen Großbritannien weg. Warum?

Die dortigen Experten gehen davon aus, dass die umgesetzten Maßnahmen keine Verbesserung, sondern eher eine leichte Verschlechterung mit Blick auf die Gewährung gleicher Bildungschancen darstellen. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise die Einführung beziehungsweise drastische Erhöhung von Studiengebühren genannt, da sie junge Menschen aus sozial benachteiligten Familien davon abhalten können, ein Studium aufzunehmen.