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Soziologie : Wenn das Leben kuratiert wird

Andreas Reckwitz' Gesellschaftstheorie gibt dem Besonderen Raum

18.12.2017
2023-08-30T12:32:31.7200Z
3 Min

Die Gans ist Weihnachten meist ein naheliegendes Gesprächsthema. Nun geht es inzwischen häufig nicht nur mehr um Geschmack und Co., sondern um die Gans an sich. Gut informierte Gastgeber wissen selbstverständlich, auf welchem Bio-Hof unter welchen idealen Bedingungen das Tier artgerecht und wohl auch glücklich aufgewachsen ist. Mit ihrem Wissen über das Gänseleben machen die Gastgeber deutlich: Dies ist eine besondere Gans.

Tatsächlich wird sie besonders gemacht. Sie wird mit Wert aufgeladen, ihr wird eine ethische Qualität zugeschrieben. So sättigt sie nicht nur, sie steht mit ihrem Leben und Sterben für nachhaltigen Konsum. Sie hat damit - anders als die Massentierhaltungs-Gänse - eine "Eigenkomplexität". Sie ist im Sinne von Andreas Reckwitz, der solche Prozesse in seinem neuen Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" beschreibt singularisiert worden.

Das Besonders-Machen ist für Reckwitz in der Spätmoderne die dominante Logik des Sozialen. Nicht nur Lebensmittel können nach diesem Verständnis singularisiert werden, sondern auch Orte (Altbauwohnungen, Stadtviertel), Zeitlichkeiten (besondere Feste, Konzerte) Dinge und Objekte oder Kollektive sowie die Subjekte und ihre Lebensstile. Das gilt besonders für die "neuen Mittelklasse". Diese kennzeichnet sich durch ihren vornehmlich akademischen Hintergrund, eine berufliche Orientierung hin zu hochqualifizierten, kreativen Tätigkeiten, die den sozialen Status sichert, und dem allgemeinen Wunsch nach "erfolgreicher Selbstverwirklichung", sei es im Beruf und der Erziehung oder beim Essen, Wohnen und Reisen. Reckwitz meint damit, dass das Subjekt in allen Bereichen nach Besonderheit etwa ästhetischer oder ethischer Art und dem Authentischen strebe und quasi in Tradition vom Romantik, Bohème und 68 abseits des profanen Nicht-Besonderen leben wolle. Genau das werde vom spätmodernen Subjekt aber auch erwartet und um erfolgreich zu sein (und entsprechendes Prestige zu erlangen), bedürfe es der permanenten Aufführung und Kuratieren des Lebens im Besonderen.

Die Auseinandersetzung mit dem Lebensstil der "neuen Mittelklasse" ist ein sehr zugänglicher Teil von Reckwitz' Arbeit. Seine praxeologisch grundierte Gesellschaftstheorie erschöpft sich darin aber nicht. Er will das Verständnis der Moderne als ein auf der "sozialen Logik des Allgemeinen" beruhender Prozess - mit den Schlagwörtern Rationalität und Effizienz - um eine Logik des Besonderen ergänzen. Diese ist für den 47-Jährigen in ihrem Verhältnis zur Allgemein-Logik konstitutiv für das Werden der Moderne. Die Singularisierung sei gerade im Feld der Kultur immer mit dabei und schiebe sich in der Spätmoderne in den Vordergrund. In der so kulturalisierten Ökonomie beispielsweise buhlten Güter zunehmend um Anerkennung als Besonderheiten mit Wert und Komplexität abseits der puren Nützlichkeit, auch die Arbeitswelt wandle sich mit dem Kreativ-Mantra entsprechend. Reckwitz sieht zudem in aktuellen Konfliktfeldern zwischen Kosmopoliten und Neo-Nationalisten Singularisierungs-Prozesse am Werk.

Viele der Aspekte des Wandels, die Reckwitz beschreibt, klingen sehr vertraut. Die Originalität des Werkes entfaltet sich eher in der Einbettung in einen großen Rahmen. Das ist gut lesbar aufgeschrieben, die Gesellschaftstheorie bleibt als Lektüre aber anspruchsvoll. Die mehr als 400 Seiten bieten indes genug Futter, um am Festtisch auch abseits der Gans eine Unterhaltung zu führen. Sören Christian Reimer