Piwik Webtracking Image

KÜSTENSCHUTZ : Wenn der Blanke Hans kommt

Klimadeiche sollen das Festland schützen, Halligen und Wattenmeer mit dem Meeresspiegel mitwachsen

06.08.2018
2023-08-30T12:34:33.7200Z
9 Min

Trutz nun, Blanker Hans" soll der Deichgraf von Risum einst die Gewalten der Nordsee herausgefordert haben, nachdem er einen neuen Deich fertiggestellt hatte. Der Blanke Hans nahm die Herausforderung an: 1634 brach der Deich während der Burchardiflut, rund 400 Menschen ertranken in der Region. Seit Menschen an den Küsten Schleswig-Holsteins siedeln, müssen sie sich vor den Naturgewalten schützen. Insbesondere an der Nordsee drohen schwere Sturmfluten. So heftig können sie sein, dass sie die Küstenlinie nachhaltig geprägt haben: 1362 ließ eine gewaltige Sturmflut, als Erste Grote Mandränke (das Große Ertrinken) und Zweite Marcellusflut bekannt, die nordfriesischen Uthlande samt Tausender Menschen untergehen. Die inzwischen legendäre Stadt Rungholt versank, die Insel Strand entstand. Während der Burchardiflut, die Zweite Grote Mandränke, zerriss es die Insel wieder. Übrig blieben Pellworm, Nordstrand und zwei Halligen.

An diesem sonnigen Juli-Morgen im schleswig-holsteinischen Dagebüll (siehe Grafik auf Seite 9), 20 Kilometer von der dänischen Grenze entfernt, wirkt die Nordsee hingegen friedlich. Es ist Ebbe, kilometerweit erstreckt sich das Watt, durchbrochen nur von einer ausgebaggerten Fahrrinne für Fähren, die Touristen nach Föhr oder Amrum bringen. Geschäftiger geht es an der Küste zu. Dort entsteht auf insgesamt 1,2 Kilometern Länge ein neuer sogenannter Klimadeich. Schwere Bagger fahren im Schlick umher und heben Gruben aus, Kipplaster bringen tonnenweise Sand und Materialien auf die Baustelle, das mit Hilfe von GPS-unterstützten Raupen zentimetergenau verteilt wird. Wenn das Projekt voraussichtlich Ende des Jahres abgeschlossen sein wird, wird die Deichkrone 7,95 Meter über Normalnull liegen, zirka 30 Zentimeter mehr als jetzt. Mehr als 75.000 Kubikmeter Füllsand und 45.000 Kubikmeter Kleiboden sollen dafür sorgen, dass Dagebüll für die Zukunft gewappnet ist - und den Folgen des Klimawandels begegnen kann.

Generalplan Einst sorgten regionale Deichverbände und Deichgrafen selbst für den Schutz ihrer Ländereien. Inzwischen wird der Küstenschutz für das ganze Land aus dem Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung in Kiel gesteuert und durch den Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein (LKN) in Husum umgesetzt. Insgesamt 1.105 Kilometer Küste gibt es an Nord- und Ostsee. Allein an der Nordsee - inklusive der Inseln - verlaufen Landesschutzdeiche mit einer Gesamtlänge von 262,2 Kilometer der höchste Deich hat eine Deichkrone von 9,40 Meter über Normalnull. "25 Prozent der Landfläche in Schleswig-Holstein sind Niederungen, 350.000 Menschen leben dort und es sind Sachwerte in Wert von über 50 Milliarden Euro zu schützen", führt Johannes Oelerich, Leiter der Abteilung Wasserwirtschaft, Meeres- und Küstenschutz im zuständigen Ministerium und bis vor kurzem Direktor des LKN, aus. Grundlage für die Küstenschützer ist der "Generalplan Küstenschutz", in dem regelmäßig festgeschrieben wird, was beispielsweise an den Deichen zu tun ist. Aktuell ist die Verstärkung von rund 90 Kilometern Deich geplant, darunter auch das Küstenschutzbauwerk in Dagebüll.

Das dortige Vorhaben stellt für die Küstenschützer eine besondere Herausforderung dar. "Wir müssen ins Wasser bauen", erläutert Lutz Pfitzner, der das Projekt für den Landesbetrieb leitet. Denn direkt hinter dem im Bau befindlichen Deichabschnitt stehen in Dagebüll Wohnhäuser und Hotels. Wenn Pfitzner die Baustelle zeigt, dann sprudeln die Fachbegriffe: Von Deckwerk ist die Rede, von Kleischichten und Deichverteidigungswegen. In den Bauwerken von heute stecken neben modernster Ingenieurskunst die Erfahrungen aus Jahrhunderten des Küstenschutzes vor Ort. Selbst die kleinsten Details, etwa die Verkantung der Gehwegplatten, sind darauf ausgelegt, den Meeresgewalten und einer Erosion des Bauwerkes zu widerstehen.

Grundsätzlich seien Deiche in Schleswig-Holstein darauf ausgelegt, einer 200-Jahre-Sturmflut standzuhalten, erläutert Pfitzner. Die Planer rechnen den steigenden Meeresspiegel in Folge des menschengemachten Klimawandels schon ein. Der Weltklimarat IPCC schätzt den globalen mittleren Anstieg zwischen 2000 und 2100 auf zwischen 0,2 und 0,8 Metern ein. In Teilen des Wattenmeeres wird aufgrund regionaler Bedingungen der Anstieg sogar noch relativ höher ausfallen. Ein sogenannter Klimazuschlag von 50 Zentimeter wird daher in Schleswig-Holstein auf die Soll-Höhe aller Deiche aufgeschlagen. Sollte das nicht reichen, können nachfolgende Generationen bei den neuen Klimadeichen schnell aufsatteln. "Im Fall der Fälle kann noch eine Kappe auf den neuen Deich aufgesetzt werden", sagt Projektleiter Pfitzner. Deswegen wird die Deichkrone nicht wie bisher üblich 2,50 Meter, sondern doppelt so breit sein. Auch die Böschung des Deiches wird seeseitig flacher ausfallen, um eine künftige Deichverstärkung zu vereinfachen. Dieser nachhaltige Ansatz macht den Deichbau teurer: Mit Gesamtkosten von rund 17 Millionen Euro rechnet der Landesbetrieb, etwas mehr als die Hälfte davon trägt die Europäische Union (EU), ein Drittel der Bund und den Rest das Land. Dafür sollen spätere Nachrüstungen deutlich günstiger ausfallen.

Wattenmeer Das Meer nur als Bedrohung zu sehen, greift aber zu kurz. Es muss selbst geschützt werden. Vor der Küste im Westen des Bundeslandes erstreckt sich das Wattenmeer, das von Dänemark bis an die Küste der Niederlande reicht. Schleswig-Holstein erklärte seinen Wattenmeerabschnitt, der 4.431 Quadratkilometer umfasst, bereits 1985 zum Nationalpark. Seit 2004 ist es - gemeinsam mit den Halligen - UNESCO Biosphärenreservat und seit 2009 - gemeinsam mit den Wattgebieten der Nachbarländer - UNESCO Weltnaturerbe. Die EU hat das Wattenmeer zudem zum Vogelschutz- und Flora-Fauna-Habitat-Gebiet ernannt. Was das Wattenmeer so wertvoll macht, sind laut Hans-Ulrich Rösner, Leiter des Wattenmeer-Büros der Umweltschutzorganisation WWF in Husum, drei Aspekte: "Es ist eine Drehscheibe für zehn Millionen Wat- und Wasservögel. Im westeuropäischen Kontext ist es einer der natürlichsten Räume, den wir noch haben. Und es handelt sich um das größte zusammenhängende Wattenmeer der Welt." In den vergangenen Jahrzehnten hätten staatliche und nichtstaatliche Akteure gemeinsam viel erreicht, um das Wattenmeer zu schützen, bilanziert Rösner. Ein Musterbeispiel für die Zusammenarbeit von Natur- und Küstenschützern beim Umgang mit dem Meeresspiegelanstieg sei die 2015 in Schleswig-Holstein verabschiedete "Wattenmeerstrategie 2100".

Das war aber nicht immer so. "Historisch betrachtet war das Wattenmeer für die Menschen kein fantastischer Lebensraum, sondern ein wertloses Land, was man nicht beackern konnte und von wo gefährliche Sturmfluten kamen", so Rösner. In den 1970ern und 1980ern gab es heftige Konflikte um die Eindeichung der Nordstrander Bucht, gegen die Naturschützer aufbegehrten. Rund 35 Quadratkilometer wurden damals dem ökologisch ohnehin schon gebeutelten Wattenmeer abgetrotzt. Doch weitere 20 konnten erstmals vor der Eindeichung gerettet werden. Es sei schon erstaunlich und ein ganz großer Erfolg für den Naturschutz, wie sehr sich die Sichtweise innerhalb einer Generation verändert habe. Inzwischen arbeiteten Küsten- und Naturschützer im Dialog, auch wenn gelegentlicher Streit natürlich nicht ausbleibe, freut sich der WWF-Experte, der seit den 1980ern im Wattenmeer aktiv ist.

So sieht es auch der ehemalige Direktor des LKN. Das Wattenmeer sei - wie auch die Inseln und Halligen der Nordsee - ein "integraler Bestandteil" des Küstenschutzes. "Wenn es gelingt, das Küstenvorfeld zu erhalten, dann trägt das unmittelbar zum Schutz der Festlandküste bei", sagt Oelerich. In der Praxis zeigt sich dieses Verständnis beim sogenannten Sedimentmanagement. Wurden Deiche früher mit Sand aus Küstennähe aufgespült, wird dieser nun importiert. Denn das Watt braucht seine Sedimente selbst. Wenn der Meeresspiegel steigt, muss das Wattenmeer entsprechend mitwachsen. Das tat es bisher auch, ob es das aber in Zeiten des Klimawandels schafft, ist fraglich. "Ohne den Eintrag von Sediment aus der Nordsee könnte sich das Wattenmeer bei steigendem Meeresspiegel in eine Lagunenlandschaft verwandeln. Das würde zu massiven Veränderungen im Ökosystem führen", warnt Oelerich.

Eine der Besonderheiten des nordfriesischen Wattenmeers sind die zehn Halligen, von denen sieben bewohnt sind. Die größte Hallig ist mit 11,5 Quadratkilometern Langeneß. Auf den ersten Blick karge, aber ökologisch wertvolle Salzwiesen prägen die Landschaft, Bäume sind nur auf den erhöhten Warften zu finden. Radfahrer kämpfen mit dem Wind. Gegrüßt wird hier mit einem ebenso knappen wie freundlichen "Moin". Langeneß lässt sich in 90 Minuten per Fähre erreichen, manche Einheimische können auch auf eine Lore zurückgreifen. In knapp 45 Minuten kommen die Hallig-Bewohner damit über einen rund neun Kilometer langen Damm nach Dagebüll. Das sei insbesondere für die jungen Leute wichtig, die nicht auf den Fährfahrplan angewiesen sein wollen, sagt Heike Hinrichsen. Die 60-Jährige kommt eigentlich aus Neuss am Rhein, lernte während eines Urlaubs ihren Mann kennen und zog auf dieses kleine Fleckchen Erde inmitten des Wattenmeeres. Das war vor 40 Jahren.

Inzwischen ist Hinrichsen seit fünf Jahren die Bürgermeisterin der 134 Bewohner von Langeneß und der nahegelegenen Hallig Oland. Wenn sie von ihrer Arbeit berichtet, dann hat dies viel gemein mit dem, was auch Bürgermeisterinnen und Bürgermeister kleiner Kommunen auf dem Festland berichten würden - nur in einem ganz anderen Maßstab. Die Kita wird aktuell von einem Kind besucht, demnächst werden es zwei sein. 14 Schüler zählt die Hallig-Schule, zwei Lehrkräfte unterrichten die Klassen 1 bis 9. Bei einer Tour über die Hallig muss Hinrichsen auf den engen Straßen Arbeitern ausweichen - sie verlegen gerade Glasfaser für schnelles Internet. Auf einer nicht genutzten Warft will die Gemeinde einen Nahversorger ansiedeln. Wie in anderen Kommunen auch, will Hinrichsen junge Leute dazu bewegen, vor Ort zu bleiben, und junge Menschen auf die Hallig locken. Eigenbrötler sind dabei nicht unbedingt erwünscht: "Neuankömmlinge fragen wir zuerst, ob sie in die Freiwillige Feuerwehr eintreten und bei der plattdeutschen Theatergruppe mitmachen wollen", schmunzelt Hinrichsen.

Der wesentliche Unterschied zu anderen Gemeinden ist aber, dass Langeneß rund 15 bis 20 Mal im Jahr überflutet wird. Dann ragen nur noch die achtzehn Warften aus dem Meer hervor. "Bei Land unter ist jede Warft auf sich selbst gestellt", sagt die Bürgermeisterin. Sie selbst habe sich Land unter zunächst viel schlimmer vorgestellt, als es dann tatsächlich war. Allerdings gibt es auch verheerendere Sturmfluten: Die Februarflut von 1962 richtete auf den Halligen schwere Verwüstungen an, auch wenn kein Mensch sein Leben ließ. "Küstenschutz ist für uns quasi überlebenswichtig", betont daher auch Hinrichsen. Auch ökonomisch seien die elf Stellen des Küstenschutzes für die auf der Hallig lebenden Familien wichtig, die daneben auch vom Tourismus leben.

Mitwachsen mit dem steigenden Meeresspiegel ist auch bei den Halligen das Stichwort der Stunde. "Auf den Halligen zeigt sich wie unter einem Brennglas, ob es uns gelingt, mit dem Klimawandel umzugehen", betont Oelerich. Anders als auf dem Festland und den Inseln wie Föhr oder Amrum bedeutet Küstenschutz dort auch, Überflutungen zuzulassen. Denn bei Land unter bleibt Material auf der Insel zurück und lagert sich ab. Auch der WWF argumentiert in diese Richtung. "Es müssen mehr Überflutungen zugelassen werden", mahnt Rösner. Die vorhandenen Sommerdeiche, die etwa Langeneß vor moderaten Fluten schützen, seien Fluch und Segen zugleich. Die Halligen würden nicht ganz so oft überflutet, was den Einwohnern zugutekäme, allerdings wüchsen sie auch nicht mehr genug, um mit dem Meeresspiegelanstieg mitzuhalten. "Damit geraten langfristig beispielsweise Brutplätze für zahlreiche Küstenvögel in Gefahr", warnt der 59-Jährige. Geklärt werden müsse, wie sich Überflutungen steuern ließen, damit es für die Bewohner nicht zu schwierig wird.

Warftverstärkung Um dem Anstieg des Meeresspiegels zu trotzen, müssen auch die Warften auf den Halligen erhöht werden. Einfach ist das nicht, denn wie Bürgermeisterin Hinrichsen berichtet, sind viele davon eng bebaut und nicht beliebig erweiterbar. Vier Pilot-Warften auf den Halligen will der LKN nun zunächst zukunftsfest machen, um Erfahrungen zu sammeln.

Aber reicht das alles, um mit den Folgen des Klimawandels an der Küste Schleswig-Holsteins klarzukommen? WWF-Experte Rösner ist davon überzeugt, wenn man entsprechende Anstrengungen unternimmt. "Selbst wenn das Pariser Klimaschutzabkommen vollständig umgesetzt wird, werden die Probleme mit dem Meeresspiegelanstieg groß werden." Die Insel Pellworm liege beispielsweise schon heute unter dem Meeresspiegel, da sei es fraglich, ob in einigen Jahrzehnten Deichverstärkung als einzige Maßnahme noch ausreiche. "Wenn dann doch mal der Deich bricht, sieht man alt aus." Künftige Generationen müssten sich daher mit neuen Konzepten beschäftigen und sich etwa fragen, ob sie wieder mehr Wasser ins Land lassen und Warften bauen wollen. So weit sei die gesellschaftliche Diskussion aber noch nicht. Rösner schwant allerdings nichts Gutes, sollte die Klimapolitik nicht vorankommen: "Dann helfen gar keine Konzepte mehr." Sören Christian Reimer