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sEENOT-RETTUNG : Lebensretter oder Lockmittel

Private Hilfsorganisationen haben zehntausende Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken bewahrt. Doch ihr Einsatz ist umstritten

29.04.2019
2023-08-30T12:36:21.7200Z
4 Min

"Es gibt plötzlich zwei Meinungen darüber, ob man Menschen, die in Lebensgefahr sind, retten oder lieber sterben lassen soll", schrieb vergangenes Jahr die "Süddeutsche Zeitung". Dies sei "der erste Schritt in die Barbarei". Die Worte machten Furore, trafen aber die Sache nicht ganz. Zwei Meinungen darüber gab es schon lange. Aber die, die gegen private Rettungsmissionen sind, haben diese Ansicht seit dem Sommer 2018 in praktische Politik umgesetzt.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex wandte sich schon 2014 gegen Italiens Marine-Rettungsmission "Mare Nostrum" vor Libyen. Diese sei ein "Pull-Faktor", also ein Lockmittel: Sie verleite Flüchtlinge, in See zu stechen, weil sie schon bald auf Aussicht auf Rettung hoffen können. Ohne sie würden "nennenswert weniger Migranten" den Aufbruch riskieren, erklärte Frontex laut einem Sitzungsprotokoll aus dieser Zeit. Frontex wollte, dass die Operation vor Libyen gestoppt wird. So geschah es.

Die Todeszahlen im Meer stiegen in der Folge weiter an: Von Januar 2015 bis Februar 2019 ertranken mindestens 12.046 Menschen vor Libyen. Zugleich traten mehr als ein Dutzend Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zur Seerettung auf den Plan.

2015 trägt der Brandenburger Kleinunternehmer Harald Höppner beim Amtsgericht in Berlin-Charlottenburg den Verein "Sea Watch" ein. Drei Wochen später startet unter gleichem Namen ein von ihm für 100.000 Euro gekaufter, umgebauter Fischkutter Richtung Malta, um auf dem Mittelmeer Ausschau nach Flüchtlingen zu halten und Hilfe zu leisten. An Bord sind Trinkwasser und Rettungsinseln für bis zu 500 Menschen. Das Schiff soll keine Flüchtlinge aufnehmen, sondern im Notfall die Küstenwache alarmieren. Ein "kompliziertes Unterfangen", sagt Höppner. Aber "nichts zu tun, ist für uns keine Alternative". Er findet Nachahmer: Bis 2018 schicken weitere NGOs - teils internationale wie "Ärzte ohne Grenzen", andere aus Deutschland, Malta, Spanien, den Niederlande und Italien - Rettungsboote auf das Mittelmeer, alle spendenfinanziert.

Von Anfang 2013 bis Mitte 2018 kamen etwa 681.000 Migranten nach Italien. Ginge es in Europa gerecht zu, hätte sich Italien gemäß seiner Größe und Wirtschaftskraft - rund ein Neuntel der EU - um etwa 75.000 von ihnen kümmern müssen. In fünfeinhalb Jahren. Doch bei der Flüchtlingsverteilung geht in der EU nicht gerecht zu. 2015 hatte sie sich geeinigt, Griechenland und Italien insgesamt 160.000 Flüchtlinge abzunehmen, davon etwa 45.000 aus Italien. Selbst das wäre viel zu wenig gewesen. Doch Ungarn und die Slowakei klagten gegen die Vereinbarung, verloren - und nahmen trotzdem keinen Flüchtling aus Italien. Sieben weitere Staaten haben zwar nicht geklagt, aber Italien bis zum Auslaufen des Programmes im Oktober 2018 keinen einzigen Flüchtling abgenommen. Insgesamt nahm der Rest der EU Italien mit der Relocation genannten Umverteilung nur 12.706 Flüchtlinge ab.

Stattdessen setzte die EU auf die libysche Küstenwache. Die EU bildet sie aus und stellt ihr Schiffe zur Verfügung. Seit dem Sommer 2017 kreuzt diese vor der libyschen Küste. Wenn sie Flüchtlinge erspäht, bringt sie sie zurück. Nach kurzer Versorgung durch die UN-Organisationen UNHCR und IOM geht es für sie in staatliche Internierungslager des Department for Combating Illegal Migration (DCIM). Berichte, wonach es dort "zu äußerst schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen" gekommen sei, nennt das Auswärtige Amt in Berlin glaubhaft. Amnesty International schätzt, dass 2017 etwa 20.000 Menschen zurückgebracht wurden; 2018 waren es nach einem Bericht der UN-Mission in Libyen bis August weitere 29.000.

Doch die libysche Küstenwache hält nicht alle Flüchtlinge auf. Von Januar 2016 bis Mai 2018 werden nach einer Zählung der IOM im zentralen Mittelmeer 301.491 Menschen gerettet und nach Europa gebracht - 97.236 davon von den NGOs. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri sagte, ihre Arbeit führe dazu, "dass die Schleuser noch mehr Migranten als in den Jahren zuvor auf die seeuntüchtigen Boote zwingen. Wir sollten deshalb das aktuelle Konzept der Rettungsmaßnahmen vor Libyen auf den Prüfstand stellen."

Im August 2017 ruft die Rettungsleitstelle in Rom das Rettungsschiff "Iuventa" in den Hafen von Lampedusa. wo Staatsanwälte es an die Kette legen. Der Vorwurf: "Begünstigung der illegalen Einreise". Anderen Schiffen wird das Auslaufen untersagt oder die Flaggen entzogen. Manche laufen trotzdem aus, ohne zu wissen, wohin sie Gerettete bringen können. Im Winter kreuzen sie teils wochenlang auf dem Meer, weil kein Land sie mit Flüchtlingen in einen Hafen lassen will. Die Rate der Toten im zentralen Mittelmeer steigt im Verhältnis zu denen, die Europa erreichen.

Die privaten Rettungsorganisationen fordern eine staatlich finanzierte Rettungsflotte. Doch damit diese arbeiten könnte, bräuchte es einen festen Mechanismus zur Aufteilung der Geretteten. Dafür gibt es im EU-Rat derzeit keine Mehrheit. Die Alternative wäre ein Verteilungssystem nur unter aufnahmewilligen EU-Staaten. Hier indes scheitert ein Konsens derzeit daran, dass manche Länder prinzipiell bereit wären, Gerettete aller Nationalitäten für eine Asylprüfung aufzunehmen, andere - wie Deutschland - aber nur solche mit guter Bleibeperspektive.

Der Autor ist Redakteur der "tageszeitung" in Berlin.