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POLEN : Eine Frage der Anerkennung

Das Verhältnis zum deutschen Nachbarn bleibt schwierig. Nach wie vor ist die Geschichte omnipräsent

11.06.2019
2023-08-30T12:36:23.7200Z
5 Min

Das Barometer fällt stetig in den polnisch-deutschen Beziehungen. Zumindest gilt das für die östliche Perspektive. Vor 15 Jahren, beim Beitritt ihres Landes zur EU, bewerteten 80 Prozent der Polen das Verhältnis zu ihren Nachbarn im Westen als gut. Sieben Jahre später waren es noch 70 Prozent. Heute sind es keine 60 Prozent mehr. Die Deutschen sind sprunghafter in ihrem Urteil. Sie starteten bei 60 Prozent und erreichten sieben Jahre später einen Spitzenwert von 70 Prozent, bevor die Stimmung kippte. Nach den Wahlsiegen der nationalkonservativen PiS in Polen im Jahr 2015 fiel die Zustimmung zeitweise auf 31 Prozent.

Diese Ergebnisse des aktuellen Deutsch-Polnischen Barometers 2019, das vom Warschauer Institut für Öffentliche Angelegenheiten herausgegeben wird, korrespondieren auffällig mit Einschätzungen auf politischer Ebene. Auch hier war die Gesprächsatmosphäre bis vor wenigen Jahren schon einmal eine andere, man denke etwa an den Austusch zwischen Polen, Deutschland und Frankreich im "Weimarer Dreieck". Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), der zugleich Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit ist, konstatierte zuletzt "ernsthafte Meinungsverschiedenheiten". Im Blick hatte er dabei das Rechtsstaatsverfahren der EU-Kommission gegen Polen. Aus Brüsseler Sicht höhlt die PiS-Regierung vor allem mit ihren Justizreformen die Gewaltenteilung aus. Deutschland unterstütze die EU-Sicht, schrieb Woidke, nicht ohne einen konstruktiven Dialog anzumahnen.

Den allerdings vermisst man auch in Polen gelegentlich. So nennt Außenminister Jacek Czaputowicz die deutsche Haltung zur umstrittenen Ostseepipeline Nord Stream 2 eine "antieuropäische Position". Differenzen gibt es zudem in der Migrationspolitik oder beim Klimaschutz. Die Regierung in Warschau lehnt Flüchtlingsquoten rundweg ab, ebenso wie einen Ausstieg aus der Kohle, die in Polen fast 80 Prozent zum Energiehaushalt beiträgt. Auch in der Außen- und Sicherheitspolitik ist man sich nicht immer einig. Das gilt besonders für das historisch so belastete Verhältnis zu Russland.

Überhaupt, die Geschichte: 2019 ist wieder so ein deutsch-polnisches Gedenkjahr, in dem alles zusammenzukommen scheint, was die Nachbarn im Herzen Europas so schmerzhaft trennt, aber auch schicksalhaft und mitunter sogar glücklich verbindet. Die EU-Osterweiterung vor 15 Jahren und Polens Nato-Beitritt vor 20 Jahren sind ja nur die jüngsten Erinnerungsdaten. Vor 30 Jahren fiel die Mauer, ein Ereignis, das ohne den Freiheitskampf der Solidarnosc nicht denkbar wäre. Doch die Mauer war eine Folge des Weltkriegs, und das Gedenken an das Grauen überlagert alle Erinnerungen an die Freude von 1989: In wenigen Wochen jährt sich der Überfall der Wehrmacht auf Polen zum 80. Mal. Mit ihm begann das nationalsozialistische Deutschland am 1. September 1939 seine Vernichtungsfeldzüge im Osten Europas.

Aufstand Fünf Jahre später, am 1. August 1944, erhoben sich Kämpfer der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa/AK) gegen die deutsche Besatzungsmacht. 75 Jahre ist es her, dass SS-Einheiten und Wehrmachtssoldaten Warschau bis auf die Grundmauern niederbrannten. Das Gedenken an den todesmutigen Aufstand der AK und an die folgenden Verheerungen ist in Polen bis heute nicht weniger präsent als die Erinnerung an den Beschuss der Danziger Westerplatte und den Kriegsbeginn. All das muss man bedenken, wenn man die wieder aufgeflammten Debatten über polnische Reparationsforderungen an Deutschland angemessen einordnen will.

Jenseits der Oder trifft das Thema bei vielen Menschen einen Nerv, während Politiker, Publizisten und Juristen hierzulande meist verbal abwinken: Letzte offene Entschädigungsfragen seien im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 geregelt worden. Zwei von drei Polen sind dennoch der Meinung, die Bundesrepublik habe die moralische Pflicht, weitere Wiedergutmachung für Kriegsschäden zu leisten - Völkerrecht oder auch Annexion der deutschen Ostgebiete durch Polen und Vertreibung der Deutschen hin oder her.

Angesichts der demoskopischen Werte ist es kein Wunder, dass vor allem Politiker der nationalkonservativen PiS das Thema als "Mittel der patriotischen Mobilisierung" für sich entdeckt haben, wie der Breslauer Historiker Krzysztof Ruchniewicz schreibt. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski stellte 2017 die rhetorische Frage: "Haben wir etwas erhalten für die unglaublichen Schäden, die bis heute nicht vollständig beseitigt werden konnten?" Er antwortete mit Nein und erklärte, Polen habe "nie auf Entschädigungen verzichtet". Wenig später bezifferten PiS-Politiker die ausstehenden Forderungen auf rund 700 Milliarden Euro.

Unter Brennglas Eine große Mehrheit der Völkerrechtler, nicht nur in Deutschland, ist sich einig, dass es für eine solche Reparationsrechnung keine juristische Grundlage gibt. Aber rechtliche und moralische Normen sind nicht immer deckungsgleich, und so zeigt sich in der Reparationsdebatte wie unter einem Brennglas, wo es im deutsch-polnischen Verhältnis seit Jahren hakt, und zwar ganz grundsätzlich, unabhängig von regierenden Parteien: bei der wechselseitigen Würdigung von historischen Leistungen und Leiden. Dabei geht es, wohlgemerkt, aus polnischer Perspektive viel weniger um deutsche Bekenntnisse, die es ja auch außerhalb von Sonntagsreden durchaus gibt. Es geht vielmehr um die Zwischentöne, für die viele Polen mit ihrer besonderen historischen Sensibilität ein außergewöhnlich gutes Gehör haben.

Um es konkret zu machen, muss man gar nicht Großthemen wie Nord Stream 2 bemühen. Erinnert sei an das Jahr 2014, als die A12 zwischen Berlin und der Oder-Grenze in "Autobahn der Freiheit" umgetauft werden sollte. Die Initiative dazu hatte der polnische Präsident Bronislav Komorowski gestartet, der sich den Namen für die gesamte Strecke zwischen der deutschen und der polnischen Hauptstadt wünschte, um die historische Dimension des freien Personen- und Warenverkehrs zu unterstreichen. Die Polen hatten mit der Beschilderung "Autostrada Wolnosci" vorgelegt. Deutsche Kommentatoren dagegen äußerten oft Unverständnis - und offenbarten damit ihre Geschichtsblindheit: Die A12, hieß es, sei doch vor allem eine Todespiste für Raser und eine Fluchtstrecke für Autodiebe.

Das Deutsch-Polnische Barometer 2019 zeigt, dass fast die Hälfte der Polen die eigene Rolle in der Geschichte für "international nicht ausreichend anerkannt" hält. Das gilt für die historische Leistung der Solidarnosc ebenso wie für die Opfer während des Weltkrieges und unter der Sowjetherrschaft. Von solchen Überzeugungen wiederum, das belegen demoskopische Analysen regelmäßig, profitiert eine nationalkonservative Partei wie die PiS fast zwangsläufig. Zuletzt zeigte sich das bei der Europawahl, als die PiS mit 45,4 Prozent und einem Plus von 14 Punkten ihr bislang bestes Ergebnis bei Parlamentswahlen erzielte.

Der Blick im politischen Warschau geht allerdings bereits voraus. Im Oktober wählen die Polen ihr Parlament mit den beiden Kammern Sejm und Senat neu. Im Frühjahr 2020 folgt die Präsidentschaftswahl, bei der Amtsinhaber und PiS-Kandidat Andrzej Duda von Ex-Premier und dem heutigen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk herausgefordert werden könnte. Tusk-Kenner in Warschau gehen allerdings davon aus, dass der 62-Jährige nur dann antritt, wenn er eine echte Chance hat.

PiS weiter vorn Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Vor der Europawahl hatte die Opposition zwar ein breites Bündnis geschmiedet, das von der postsozialistischen SLD über die Grünen und Tusks liberal-konservativer PO bis zur strukturkonservativen Bauernpartei reichte. Hinzu kam die neugegründete linksliberale Bewegung Wisona (Frühling) von Robert Biedron, der 2011 der erste offen homosexuell lebende Sejm-Abgeordnete war.

Aktuelle Umfragen sehen allerdings die PiS vorn, mit ähnlichen Werten wie bei der Europawahl. In Brüssel und Berlin stellt man sich bereits auf weitere "ernsthafte Meinungsverschiedenheiten" mit der Regierung in Warschau ein.

Der langjährige Polen-Korrespondent ist heute freier Journalist in Berlin.