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FLÜCHTLINGE : Nur für Ausländer

Mit der Verfassungsänderung von 1993 ist das Grundrecht auf Asyl stark eingeschränkt worden. Andere Schutzformen fallen heute mehr ins Gewicht

15.07.2019
2023-08-30T12:36:25.7200Z
5 Min

Sommer 1940: Herbert Frahm steht spätabends an der norwegisch-schwedischen Grenze bei Skillingmark. Nach der Besetzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht kann das dem 26-jährigen Emigranten keinen Schutz mehr bieten. Erst nach Stunden kommt eine schwedische Grenzpatrouille vorbei, bei der der später als Willy Brandt bekannt gewordene Deutsche mit norwegischer Staatsbürgerschaft um Asyl als politischer Flüchtling bitten kann; dann ist der spätere Bundeskanzler in Sicherheit.

Joseph Sprung, 1927 in Berlin geboren, versucht im November 1943 zusammen mit seinen Cousins Henri und Sylver Henenberg als Jude aus dem von Deutschland besetzten Frankreich in die Schweiz zu fliehen. Beim ersten Versuch werden sie von Schweizer Grenzbeamten zurückgewiesen, beim zweiten Anlauf deutschen Grenzorganen übergeben und im Dezember nach Auschwitz deportiert. Von den dreien überlebt nur Sprung, der sich später Spring nennt, das NS-Vernichtungslager.

Schicksale, die beispielhaft für viele Tausende stehen, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen mussten und in Ländern wie Schweden und der Schweiz Schutz fanden - oder auch nicht. Exakt vier Jahre nach Kriegsende beschließt in Bonn der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. In Artikel 16 Absatz 2 lautet der zweite Satz: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Es ist das einzige Grundrecht, das nur für Ausländer gilt.

Konsequenzen Damit zog der Parlamentarische Rat Konsequenzen aus den Erfahrungen der NS-Verfolgten. Vorgeschlagen hatte der spätere Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid (SPD) die Formulierung, die in den Verfassungsberatungen zunächst auf Bedenken stieß. Ein CDU-Vertreter befürchtete beispielsweise in einer Sitzung des Hauptausschusses im Dezember 1948, , mit Schmids Formulierung "könnten wir genötigt werden, Faschisten, die in Italien politisch verfolgt werden, bei uns in unbegrenzter Zahl aufzunehmen". Schmid wiederum wandte sich gegen Beschränkungen: "Wenn man eine Einschränkung vornimmt, etwa so: Asylrecht ja, aber soweit der Mann uns politisch nahesteht oder sympathisch ist, so nimmt das zuviel weg." Unterstützung fand er in den Beratungen unter anderem durch Hermann von Mangoldt (CDU).

Am 6. Mai 1949 billigte der Parlamentarische Rat Schmids Formulierung mit "großer Mehrheit", wie sein Präsident Konrad Adenauer (CDU) feststellte: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten dem künftigen Staat ein einklagbares Individualrecht auf Asyl mit in die Wiege gelegt. Zwei Jahre später zählte die Bundesrepublik zu den Unterzeichnerstaaten des Abkommens "über die Rechtsstellung der Flüchtlinge", besser bekannt als Genfer Flüchtlingskonvention.

Schmids Formulierung hielt sich mehr als vier Jahrzehnte ohne Einschränkung, nämlich bis zum 26. Mai 1993. An diesem Tag verabschiedete der Bundestag nach jahrelangen Diskussionen den sogenannten Asylkompromiss, auf den sich die schwarz-gelbe Koalition unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) mit den oppositionellen Sozialdemokraten verständigt hatte. Vorangegangen waren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Beginn der Jugoslawien-Kriege Anfang der 1990er Jahre ein massiver Anstieg der Asylbewerberzahlen, die von 57.379 im Jahr 1987 auf 438.191 im Jahr 1992 kletterten; zugleich hatte es ausländerfeindliche Ausschreitungen und Mordanschläge gegeben; Orte wie Rostock-Lichtenhagen und Mölln erlangten traurige Berühmtheit.

Der 26. Mai 1993 war ein auch für die deutsche Parlamentsgeschichte bemerkenswerter Tag. Rund 10.000 Demonstranten versuchten aus Protest gegen den Asylkompromiss das Bonner Regierungsviertel abzuriegeln; Hunderte Abgeordnete mussten mit Hubschraubern und Schiffen über den Rhein zum Parlament gebracht werden. Ab 9 Uhr debattierte das Hohe Haus; mehr als 75 Abgeordnete ergriffen das Wort. Bevor Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) um 22.53 Uhr die Sitzung schloss, gab sie das Abstimmungsergebnis bekannt: 521 Parlamentarier stimmten für den von Union, SPD und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes (12/4152, 12/4984); dagegen votierten 132, darunter neben den beiden Bundestagsgruppen von PDS und Bündnis 90/Die Grünen auch zahlreiche Sozial- und einige Freidemokraten; ein SPD-Abgeordneter enthielt sich. Die für die Grundgesetzänderung notwendige Zweidrittelmehrheit von 442 Stimmen war klar übertroffen.

Drittstaatenregelung Carlo Schmids Formulierung im Artikel 16 wurde damit in einen neuen Grundgesetzartikel 16a überführt und dort eingeschränkt. Nicht auf das Asylrecht berufen kann sich danach, wer aus einem EU-Staat oder einem anderen Drittstaat (Norwegen, Schweiz) einreist, in dem die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist. Zudem können per Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates sogenannte sichere Herkunftsstaaten bestimmt werden, deren Angehörige bei einem Asylantrag nach einem verkürzten Verfahren abgeschoben werden dürfen. Geändert wurden zudem asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtliche Vorschriften sowie Regelungen über Leistungen an Asylbewerber. Neu eingeführt wurde auch die "Flughafenregelung", nach dem Asylverfahren im Transitbereich von Flughäfen schon vor der Einreise nach Deutschland durchgeführt werden können.

In den Folgejahren gingen die Asylbewerberzahlen deutlich zurück: Wurden 1995 noch 166.951 Erst- und Folgeanträge gezählt, sank diese Zahl allmählich auf unter 30.000 im Jahr 2008, um dann wieder auf mehr als 200.000 im Jahr 2014 anzusteigen. Der massenhafte Zuzug von Flüchtlingen insbesondere aus Syrien im Jahr darauf schlug sich in der Asylantragsstatistik mit leichter Verzögerung nieder; danach lag 2015 die Zahl der Erstanträge bei 441.899 und 2016 bei 722.370; anschließend sank sie wieder auf unter 200.000.

Verschärfungen Der Gesetzgeber reagierte auf den Anstieg mit zahlreichen Asylrechtsreformen, die zumeist neben Maßnahmen zur Integration Verschärfungen für die Flüchtlinge vorsahen. So wurde im November 2014 die Liste sicherer Herkunftsstaaten, zu denen neben den EU-Mitgliedern auch Ghana und Senegal zählten, um Serbien, Nordmazedonien und Bosnien erweitert. Es folgten Gesetze "zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung", zur "Einführung beschleunigter Asylverfahren", "zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" und und und. Mit dem im Herbst 2015 verabschiedeten "Asylpaket I" wurden auch Albanien, Kosovo und Montenegro zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Das "Asylpaket II" von 2016 setzte den Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge für zwei Jahre aus; seit August 2018 ist er auf 1.000 Personen pro Monat begrenzt. Ein erster Anlauf der Koalitionsregierung von Union und SPD, auch Algerien, Marokko und Tunesien als "sichere Herkunftsstaaten" einzustufen, scheiterte im Jahr 2017 im Bundesrat an der fehlenden Zustimmung von Landesregierungen mit Grünen-Beteiligung; ein neuerlicher Bundestagsbeschluss, neben den drei Maghrebstaaten auch Georgien zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, liegt noch - mit zweifelhaften Erfolgsaussichten - in der Länderkammer.

Kleine Zahl Ein Blick auf die Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zeigt, dass nur wenige Flüchtlinge als asylberechtigt nach Grundgesetz-Artikel 16a anerkannt werden, da die allermeisten über den Landweg und somit über einen sicheren Drittstaat einreisen. So wurden etwa im ersten Halbjahr 2019 nur 1,2 Prozent der Asylsuchenden als asylberechtigt anerkannt, nämlich 1.285, dagegen mehr als 23.000 als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention; mehr als 9.000 erhielten subsidiären, also eingeschränkten Schutz.

Die Zahlen zeigen: Flüchtling ist also nicht gleich Flüchtling. Asylberechtigt sind politisch Verfolgte, denen in ihrer Heimat schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen etwa aufgrund ihrer Religion oder politischen Überzeugung drohen und die keinen anderweitigen Schutz vor staatlicher Verfolgung haben. Dabei muss es sich laut Bamf um eine "gezielte Rechtsgutverletzung" handeln, die darauf gerichtet ist, "die Betroffenen aus der Gemeinschaft ausgrenzen", und die so schwer wiegt, "dass sie die Menschenwürde verletzt und über das hinausgeht, was die Bewohner des jeweiligen Staates ansonsten allgemein hinzunehmen haben".

Der umfangreichere Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) greift auch bei nichtstaatlicher Verfolgung. Ihn erhalten Antragsteller, deren Leben oder Freiheit im Heimatland wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bedroht ist. Subsidiärer Schutz wiederum wird Menschen gewährt, die keinen Anspruch auf Asyl oder den GFK-Schutz haben, denen aber im Herkunftsland ein "ernsthafter Schaden" droht. Darunter fällt auch eine "ernsthafte individuelle Bedrohung" infolge "willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts".