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DEUTSCHLAND : Eine Art Neustart

Die Verbindungen zu Großbritannien gehen weit zurück. Nach dem Brexit müssen sich die bilateralen Beziehungen aber erst einmal wieder sortieren.

14.04.2020
2023-08-30T12:38:15.7200Z
5 Min

Wenn Maike Bohn über ihre Wahlheimat spricht, klingt sie schwärmerisch. Als sie vor 26 Jahren nach Großbritannien gegangen ist, sei es "tiefe Liebe gewesen". Sie habe vorher auch in Frankreich gelebt; auch dort sei es schön gewesen. "Aber England war einfach mein Land."

Inzwischen aber hadert Bohn mit dem Vereinten Königreich: "Mein Heimatgefühl ist ehrlich gesagt ziemlich problematisch geworden." In den drei Jahren seit dem Brexit-Votum habe sich im Land vieles verändert - und zugleich liege vieles offen, das immer schon da gewesen sei, sie aber nicht zur Kenntnis genommen habe: "Mir ist jetzt erst wirklich klar geworden, wie unfair das politische System ist, was für ein scharf getrenntes Klassensystem es hier gibt. Man hat das früher vielleicht als englische Besonderheit belächelt, aber wenn man es am eigenen Leib erfährt, wird es doch sehr bedeutend." Zu erleben, mit wie vielen Lügen der Kampf um den Brexit geführt worden sei, wie schwer es sei, Politiker für ihre Trickserei zur Verantwortung zu ziehen, und wie wenig ausgewogen die Medienlandschaft sei: All das habe tiefe Spuren hinterlassen, sagt Bohn. "Und es ist ja immer so im Leben: Wenn man jemanden liebt, ist die Enttäuschung umso tiefer, wenn man feststellt, dass man viele Dinge übersehen hat." Wo sie lange Jahre zu Hause war, sei sie jetzt als EU-Ausländerin Bürgerin zweiter Klasse. "Das Wort ,immigration' ist inzwischen extrem negativ besetzt. Und so, wie viele Politiker wie etwa Boris Johnson immer wieder gegen Ausländer stänkern, wird uns deutlich klargemacht, dass wir nicht wirklich gewollt sind." Um ihre Rechte zu wahren, hat sie die Kampagne "3Millions" ins Leben gerufen und kämpft beharrlich um Gehör.

Liebe und Enttäuschung: Das sind die Pole, zwischen denen das Verhältnis zwischen Deutschen und Briten häufig kreist. Wer Experten nach Qualität und Geschichte der Beziehungen befragt, bekommt immer wieder ein Wort zu hören: Ambivalenz.

Personalunion Es gab und gibt zwischen Deutschland und den Vereinigten Königreich immer wieder besonders freundschaftliche und besonders schwierige Phasen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Verbindungen weit zurück gehen. Schon im 5. Jahrhundert siedelten die Angelsachsen aus dem Norddeutschen Tiefland in Großbritannien, im Mittelalter intensivierten sich die Kontakte durch deutsche Hansekaufleute in London. 1714 bestieg Georg Ludwig, Kurfürst in Hannover, den Thron von Großbritannien und Irland. Von dieser Personalunion zeugen bis heute Straßen in Großbritannien, die nach deutschen Städten oder Persönlichkeiten benannt sind. Im Kampf gegen Frankreich in den Revolutionären und Napoleonischen Kriegen kämpften deutsche und britische Soldaten gemeinsam gegen die "französische Tyrannei"; die deutsche Legion des Königs war Teil der britischen Armee. Den Kampf um Waterloo 1815 gewann man gemeinsam.

100 Jahre später stellte der "Hannoversche Courier" betrübt fest, der Verbündete aus jener Zeit sei "heute unser eingeschworener Feind". Zwei Weltkriege machten aus Freunden Gegner - und auch noch lange nach der deutschen Niederlage 1945 wurden die Deutschen im Vereinten Königreich als unverbesserliche Nazis wahrgenommen, die die Vorherrschaft über Europa anstrebten. Die Zeit, in der in britischen Medien "alle fünf Minuten der Krieg wieder hervorgeholt wurde", um die Deutschen zu diskreditieren, sei noch gar nicht allzu lange vorbei, sagt die Historikerin Tanja Bütlmann, die seit zehn Jahren an der Universität in Newcastle lehrt. Die deutsche Wiedervereinigung löste im Königreich erneut Sorgen um das deutsche Machtstreben aus. Wirklich verändert habe sich das Bild auf Deutschland mit der Fußball-WM 2006, sagt Bültmann und erfährt dabei vollste Zustimmung von Maike Bohn: "Da wurde zum ersten Mal wirklich von vielen Briten zur Kenntnis genommen, dass Deutschland sich verändert hat und ein modernes, offenes Land ist."

Alles hätte so schön sein können - wäre nicht der Brexit gekommen, der die Differnenzen beider Staaten hinsichtlich einer europäischen Kooperation unter Aufgabe nationaler Souveränität final offenlegte.

Schockierte Partner Der Ausstieg der Briten habe viele deutsche Partner nachhaltig schockiert, sagt Jens Zimmermann, SPD-Bundestagsabgeordneter und Vize-Vorsitzender der deutsch-britischen Parlamentariergruppe. Viele seiner deutschen Kollegen hätten den Ausstieg der Briten erst wirklich akzeptiert, als Boris Johnson 2019 mit klarer Mehrheit zum Premierminister gewählt wurde. "Bis dahin haben viele gedacht, es gebe noch irgendeine Hintertür und das würde nicht wirklich passieren. Zu begreifen, dass es wirklich so ist, das hat dann schon eine Art Neustart in den deutsch-britischen Beziehungen ausgelöst." Die müssten nun aber deutlich intensiver gepflegt werden, da die regelmäßigen Treffen auf EU-Ebene zwischen Regierungschefs und Ministern künftig entfallen.

Der vom CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen angeregte Freundschaftsvertrag zwischen beiden Staaten sei zwar mittelfristig eine gute Idee, aktuell sei es dafür aber zu früh. "Wir brauchen jetzt erst einmal andere Formate", sagt Zimmermann. Noch aber sei die Regierung Johnson zu neu, als dass man sagen könne, welche das sein werden. Ganz sicher sei wichtig, die Königswinter-Konferenz, die seit 1950 jährlich von der deutsch-britischen Gesellschaft für den gemeinsamen Austausch organisiert wird, dafür in den Blick zu nehmen. Weil es auch mit der britischen Handelskammer in Deutschland und einer Reihe von Städtepartnerschaften guten Kontakt gebe, sei ihm grundsätzlich nicht bange um die bilateralen Beziehungen.

Etwas weniger optimistisch ist in dieser Frage Jana Puglierin, Referentin beim Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR). Insbesondere in der Corona-Krise sei es für Deutschland wichtig, sich mit den anderen EU-Staaten abzustimmen. Schon in den Brexit-Verhandlungen vor Corona habe Deutschland sich bemüht, "die bilateralen Verhandlungen nicht zu dominant werden zu lassen; die Prioritäten liegen ganz klar auf einem europäischen Verhandlungsansatz". Es gebe zwar Bestrebungen um deutsch-britische Abkommen insbesondere im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik; für Berlin aber stehe ein Ausstiegsabkommen über das künftige Verhältnis des Königreichs zur EU vornan.

Dessen Ausgestaltung wird auch die künftigen Wirtschaftsbeziehungen beider Länder bestimmen. Gerhard Krauss, einer der beiden geschäftsführenden Gesellschafter der delta-Pronatura-Gruppe, die in Deutschland und Großbritannien Pflege- und Reinigungsmittel produziert, wartet seit Jahren auf Erkenntnisse, wie der Handel künftig gestaltet werden soll. Geschehe das lediglich nach WTO-Standards, drohten ein deutliches Mehr an Bürokratie und - überschaubare - Zölle. Zur Unsicherheit über die Formalitäten komme die Sorge vieler Produktionsmitarbeiter in Großbritannien, die aus anderen EU-Staaten stammten. "Die machen sich Sorgen, unter welchen Bedingungen sie künftig drüben leben und arbeiten werden, da gibt es viel Verunsicherung", so Krauss. Als vor drei Jahren die Entscheidung für den Brexit gefallen sei, hätte er "niemals geglaubt, dass wir heute immer noch nicht wissen, nach welchen Regeln der erfolgen wird". Inzwischen habe er sich eine alte britische Regel zu eigen gemacht: "Keep calm and carry on."

Die Autorin ist freie Journalistin in Dresden.