Piwik Webtracking Image

INNERE SICHERHEIT : Wichtige Zusammenarbeit mit ungewisser Zukunft

Bei der weiteren Gestaltung ihrer gemeinsamen Verbrechens- und Terrorbekämpfung steht für London wie für Brüssel einiges auf dem Spiel

14.04.2020
2023-08-30T12:38:16.7200Z
4 Min

Großbritanniens EU-Austritt droht die Sicherheit beiderseits des Ärmelkanals zu beeinträchtigen. Ob und wie die Zusammenarbeit bei Strafverfolgung und Terrorbekämpfung weitergeht, ist unklar - und das Misstrauen wächst.

Artikel 8 des Austrittsabkommens ist so kurz wie klar: "Das Vereinigte Königreich verliert die Zugangsberechtigung für alle Netzwerke, Informationssysteme und Datenbanken" der EU, sobald die Übergangsfrist nach dem Brexit endet. Damit ist die Zusammenarbeit zwischen Briten und EU in Sachen Verbrechensbekämpfung Ende Dezember in ihrer jetzigen Form Geschichte - wenn es bis dahin kein Abkommen über die künftigen Beziehungen gibt, das auch die Kooperation bei Strafverfolgung und Terrorismusbekämpfung umfasst.

Dieser Zeitplan galt schon vor der Coronavirus-Krise als äußerst ambitioniert. Dennoch lehnt es die britische Regierung bisher strikt ab, die Übergangsfrist zu verlängern, in der London praktisch EU-Mitglied ohne Stimmrecht bleibt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will sich deshalb bis Jahresende auf die Themen konzentrieren, "bei denen ohne Abkommen der größte Schaden droht".

Wichtiger Austausch Ob dazu die Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung gehört, ist zweifelhaft. Denn bisher spielte sie neben Themen wie Handelszöllen oder der Nordirland-Frage bestenfalls eine Nebenrolle im Brexit-Drama. Im Ende 2019 geschlossenen Austrittsabkommen taucht sie praktisch nicht auf. In der begleitenden politischen Erklärung stehen nur einige vage Absichtserklärungen, etwa, dass man die Bedingungen einer künftigen Zusammenarbeit bei der Strafverfolgungsbehörde Europol und der Justizbehörde Eurojust prüfen will. Das Kapitel "Datenaustausch" nennt zwar den Abgleich von Erbgut-, Fahrzeug- und Fingerabdruck-Daten und den Austausch von Flugpassagierdaten, doch kein Wort darüber, wie genau dies geregelt werden soll. Noch weniger gewiss ist, wie die Zusammenarbeit bei noch wichtigeren EU-Instrumenten laufen soll: dem Europäischen Haftbefehl, dem Schengener Informationssystem (SIS) und dem Europäischen Strafregister-Informationssystem (ECRIS).

Der britischen Regierung ist der Zugang zu den EU-Datenbanken immens wichtig, wie britische Politiker und Diplomaten deutlich machen. Das hat seine Gründe. Die zweite SIS-Generation etwa enthält die Daten von Terrorverdächtigen, Waffen und mehreren Zehntausend Personen, die mit Europäischem Haftbefehl gesucht werden. Über sie können sich die Schengen-Staaten dank SIS II in Echtzeit austauschen. 2019 verzeichnete das System fast 6,7 Milliarden Anfragen, davon allein 570 Millionen aus Großbritannien. Nur Spanien und Frankreich nutzten SIS II intensiver. Die Interpol-Datenbanken, auf die London ohne Einigung mit der EU zurückfiele, bieten nur einen Bruchteil dieses Umfangs. SIS II, warnte der Tory-Politiker Timothy Kirkhope bereits kurz nach dem Brexit-Referendum, sei "absolut lebenswichtig" für den Informationsaustausch. Zu verlieren hat indes auch die EU, da die Briten ihrerseits viele Daten in SIS II einspeisen: 2018 erklärte ihr damaliger Innenminister Sajid David, Großbritannien zähle zu den drei Ländern mit den meisten SIS-II-Beiträgen.

Folgenreich wäre auch ein britischer Ausstieg aus ECRIS, mit dem EU-Staaten teils automatisiert Informationen aus ihren nationalen Strafregistern austauschen können - was ohne das System ein Vielfaches an Zeit dauern würde. Der Europäische Haftbefehl wiederum erleichtert Festnahmen und Auslieferungen, da er in der gesamten EU gilt. Dabei dauert eine Auslieferung nach Angaben des britischen Institute for Government im Durchschnitt 48 Tage. Mit der Europäischen Auslieferungskonvention von 1957 - die ohne Einigung zwischen London und Brüssel gelten würde - kann es Jahre dauern.

Ob es eine solche Einigung geben wird, steht dahin - was nicht nur am Zeitdruck liegt. Der International Centre for Counter-Terrorism in Den Haag etwa weist darauf hin, dass bisher noch nie versucht wurde, einen weitreichenden Datenaustausch im Sicherheitsbereich zwischen der EU und einem Drittstaat zu organisieren.

Erschwerend hinzu kommt das Dogma der britischen Regierung, sich künftig an keine europäischen Regeln mehr halten zu wollen. So hat Premierminister Boris Johnson die EU-Kommission Anfang März darüber informiert, dass er die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht mehr formell anwenden will. Das könnte enorme Folgen haben. Denn die Position der EU dazu ist klar: Sollte sich London von der EMRK verabschieden, ist es mit der Zusammenarbeit in der Strafverfolgung sofort vorbei - so steht es im Entwurf des Abkommens über die künftigen Beziehungen, das EU-Chefverhandler Michel Barnier Mitte März vorgelegt hat.

Höhere Gewalt Kann unter diesen Umständen ein Abkommen zustande kommen, das EU und Vereinigtes Königreich auch nur annähernd auf heutigem Niveau gemeinsam Verbrecher und Terroristen jagen lässt? Zumindest bis Jahresende dürfte das schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Ausgerechnet die Coronavirus-Krise gibt indes Anlass zur Hoffnung: Solch höhere Gewalt könnte der britischen Regierung einen gesichtswahrenden Weg bieten, doch noch eine längere Übergangsphase zu beantragen.

Der Autor ist "Spiegel"- Korrespondent in Brüssel.