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Opposition : Die Schattenregierung

Keir Starmer ist neuer Vorsitzender der Labour-Partei. »Her Majesty's Official « spielt eine zentrale Rolle im konstitutionellen Gefüge des Königreichs

14.04.2020
2023-08-30T12:38:16.7200Z
6 Min

In normalen Zeiten wäre die Nachricht vom ersten Aprilsamstag dieses Jahres eine Topmeldung gewesen. Gleich in der ersten Wahlrunde gewann Keir Starmer das Amt des Vorsitzenden der Labour-Partei. Der 57-jährige Anwalt folgt Jeremy Corbyn nach, der Großbritanniens Volkspartei an den ganz linken Rand des politischen Spektrums geführt hatte und dafür bei der vorgezogenen Parlamentswahl im Dezember 2019 mit dem schlechtesten Labour-Ergebnis seit 1935 abgestraft wurde. Fast 15 Jahre, von 2010 bis 2024, könnte die Linke auf der Oppositionsbank bleiben.

Aber im April 2020 ist nichts mehr normal, weder im Vereinigten Königreich noch in den allermeisten Ländern rund um den Globus. Die Verbreitung des Coronavirus' hat das Leben vielerorts weitgehend zum Stillstand gebracht. Niemand kann voraussagen, wie die Welt aussehen wird, wenn irgendwann zumindest die gesundheitliche Gefahr durch Covid-19 überstanden sein wird.

In dieser historischen Situation führt nun Keir Starmer "Her Majesty's Official Opposition", wie die Oppositionspartei im britischen System formal heißt. Eine Rolle, die für das konstitutionelle Gefüge des Königreichs zentral ist. Auf Grund des Mehrheitswahlrechts sitzen sich im Unterhaus zwei große Blöcke gegenüber, seit den 1920er Jahren die "Conservatives" und Labour, Letztere mal mehr sozialdemokratisch, mal mehr sozialistisch aufgestellt. Nach dem Prinzip "The Winner takes it all" senden die 650 Wahlkreise jeweils einen Abgeordneten nach London.

Parteilisten und damit eine proportionale Sitzverteilung wie in Deutschland gibt es nicht, was kleine Parteien benachteiligt. Die Tories bekamen bei der vorgezogenen Neuwahl am 12. Dezember 365 Mandate, was Premierminister Boris Johnson eine stabile Mehrheit von 80 Abgeordneten bescherte. Die Labour-Partei hat 202 Parlamentarier, die Scottish National Party hat 47, die Liberaldemokraten elf. Den Rest der Sitze teilen sich walisische und nordirische Parteien sowie kleinere Parteien - unter anderem die Grünen, die seit 2010 eine einzige Abgeordnete haben, die den Wahlbezirk Brighton vertritt.

Die jüngste Parlamentswahl im Dezember war in doppelter Hinsicht eine Zäsur. Sie besiegelte den Brexit, weil Johnson und seine Tories nun die Mehrheit für das Verabschieden der notwendigen Gesetze hatten. Mit dem 31. Januar wurde damit eine 47-jährige Mitgliedschaft beendet, obwohl die Briten noch bis Ende 2020 in einer Übergangsphase weiter den EU-Regeln folgen und unbeschränkten Zugang zum Binnenmarkt haben. Angesichts der schweren Wirtschaftskrise durch die Corona-Pandemie gehen immer mehr Beobachter in London wie Brüssel davon aus, dass diese Phase verlängert wird.

Sieg als Wegmarke Aber Johnsons Sieg war auch in Hinsicht auf das Parlament selbst eine Wegmarke. Denn Unterhaus und Oberhaus sind durch die Macht der Tory-Partei im Vergleich zur vorhergehenden Legislaturperiode weniger relevant geworden - und damit bis zu einem gewissen Grad auch die Opposition. Johnson kann in vielen Bereichen durchregieren, da es 40 Rebellen in seinen eigenen Reihen braucht, um eine Gesetzesinitiative der Regierung zu kippen. Unmöglich ist das bei umstrittenen Entscheidungen aber nicht. Kurz vor Ausbruch der Corona-Krise überstand Johnson eine "backbench revolt", einen Aufstand der Hinterbänkler. Einige seiner Fraktionskollegen hatten sich mit der Opposition zusammengetan, um die Entscheidung des Premiers zu stoppen, dass der chinesische Telekomgigant Huawei Zugang zum britischen 5-G-Netzwerk bekommt. Die Revolte scheiterte an 24 fehlenden Stimmen.

Zugleich macht sie deutlich, welche Macht die Kammer respektive die Opposition mitunter haben kann - ganz besonders in Zeiten eines "hung parliament", wenn die Regierungspartei nicht über eine eigene Mehrheit verfügt. Genau das geschah im Juni 2017, als Johnsons Vorgängerin eine vorgezogene Neuwahl ausrief. Theresa May hatte damit ihre nur knappe Mehrheit ausbauen wollen, um ihre Brexit-Pläne leichter durchsetzen zu können - erreichte aber das Gegenteil. Die daraus resultierende Unfähigkeit der Regierung war der Grund, warum sich die britische Entscheidung über den EU-Ausstieg verzögerte und die Brexit-Gegner eine reelle Möglichkeit bekamen, diesen sogar noch zu verhindern.

Rückblickend waren die 18 Monate zwischen Mays Niederlage und Johnsons Triumph eine Hochzeit für die parlamentarische Arbeit und damit der Opposition. Gegner wie Anhänger des Brexits formulierten Hunderte Änderungsanträge, ungezählte Stunden debattierten die Abgeordneten. Drei Mal scheiterte May bei dem Versuch, ihren mit Brüssel verhandelten Vertrag durch das Unterhaus zu bringen. Stattdessen gelang es einer fraktionsübergreifenden Allianz immer wieder, den ungeordneten EU-Ausstieg, den "No Deal", per Gesetz zu blockieren.

Nicht zuletzt war es ausgerechnet Mays inoffizieller Koalitionspartner, die nordirische Democratic Unionist Party, die der Premierministerin die schmerzhafte Niederlage bescherte. Die DUP hatte mit May nach deren Wahlniederlage ein "Confidence and supply"-Abkommen geschlossen, durch das die Nordiren keine Plätze im Kabinett einnahmen, aber großen Einfluss und auch hohe Subventionsgelder für ihre Bürger zu Hause bekamen. Obwohl nur zehn Frauen und Männer stark, brachte ihr Widerstand gegen einen geplanten Sonderstatus Nordirlands nach dem EU-Ausstieg eine ausreichend große Koalition der Unwilligen zusammen.

Nachfolger Johnson ließ sich den fraktionsübergreifenden Aufstand hingegen nicht gefallen. Er quittiert diesen sogar mit dem Rauswurf von Parlamentskollegen, die seit Jahrzehnten in der Tory-Fraktion vertreten gewesen waren. Dieser Schritt im September 2019 war ein Showdown zwischen Parlament und Regierung, der einen wichtigen Platz einnehmen wird in den noch zu schreibenden Lehrbüchern über die parlamentarische Demokratie Großbritanniens. Denn mitunter kann nicht nur die eigentliche Oppositionspartei Gegner der Regierung werden, sondern auch das gesamte Abgeordnetenhaus.

Das Vereinigte Königreich besitzt keine geschriebene Verfassung, Recht und Gebräuche gründen sich auf Konventionen. Das ist auch im Parlament nicht anders. Zumindest gibt es für das Parlament ein Handbuch, das der Parlamentspräsident ("Speaker of the House of Commons"), aber auch die Opposition intensiv konsultieren, wenn sie die Regierung in die Zange zu nehmen versuchen. "A Treatise upon the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament" (Eine Abhandlung über Gesetz, Privilegien, Prozedere und Gebrauch des Parlaments), geschrieben im Jahr 1844 vom Verfassungstheoretiker Thomas Erskine May. Zehn Jahre zuvor war der Bau an der Themse fast vollständig einem Feuer zum Opfer gefallen.

In dem danach im neugotischen Stil erbauten Parlament sitzt die Opposition aus Sicht des Sprechers auf der linken Seite. Die Regierung sitzt ihr direkt gegenüber, ebenfalls in der ersten Reihe. An der Seite des Oppositionschefs sitzen seine Schattenminister, die in Debatten ihren jeweiligen Ressort-Gegenüber herausfordern und tief in der jeweiligen Thematik stecken.

Ursprünglich bestand das politische Spannungsfeld aus Ober- und Unterhaus, die ihre Interessen gegenüber dem britischen König oder der Königin zu verteidigen suchten. Der niedere Adel und die Landbesitzer, die im Unterhaus saßen, und die im Oberhaus als Lords vertretene Aristokratie. Gemeinsam forderten sie Rechenschaft des Monarchen ein.

Antagonismus Koalitionen von Parteien sind im britischen System indes eine absolute Ausnahme. Sie gehören auch nicht ins kulturelle Selbstverständnis der Briten, die schon als Kinder in der Schule auf Wettbewerb getrimmt werden. Sei es durch Sport, oder aber durch das schon in Kindergartentagen gewohnte Verteilen von Auszeichnungen für schulische Leistung. Gleichzeitig legt das britische System schon immer großen Wort auf die öffentliche Rede, weshalb Kinder früh in der Kunst der Rhetorik geschult werden.

Doch der Antagonismus, auf den sich das britische System gründet, steht angesichts einer zunehmend vielschichtigen Gesellschaft mit unvereinbaren Erwartungen vor großen Herausforderungen. "Das Zwei-Parteien-System, ob in Europa, den USA oder Australien, wankt dem Kollaps entgegen", warnt die Publizistin Germaine Greer. Es könne die Anforderungen nicht mehr erfüllen, weil die Wähler sich nicht in konservativ versus links einteilen ließen.

Das wäre in normalen Zeiten an sich schon eine gewaltige Aufgabe für den neuen Oppositionschef Keir Starmer. Nun aber sieht er sich vorerst in der Pflicht, dazu beizutragen, die Nation aus der Corona-Krise zu bringen. "Ich will, dass die Regierung erfolgreich ist, um Leben zu retten und das Auskommen der Bürger zu sichern", sagte Starmer bei seinem Antritt. Erst wenn diese Krise einigermaßen überwunden ist, kann sich "Her Majesty's Official Opposition" wieder ihrem ureigenen Job widmen: dem ständigen Säbelkreuzen mit den Herrschenden. Stefanie Bolzen

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.