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Schulen : An der Belastungsgrenze

Die unfreiwillige Auszeit für Schüler, Kitakinder und Lehrer bringt Stress und Unsicherheit

27.04.2020
2023-08-30T12:38:16.7200Z
7 Min

Sandra Gockel ist gerne Lehrerin. Die Schulleiterin eines Dresdner Gymnasiums liebt es, Kinder zu unterrichten - bis auf die eigenen. In der Coronakrise wird genau das von ihr erwartet. Sie hat vier Kinder, die zu Hause in den Jahrgangsstufen zwei bis sechs unterrichtet werden sollen. Obwohl sie Profi ist, fühlt sie sich von der Situation extrem herausgefordert. "Ich möchte das einfach nicht. Die Situation zu Hause ist eine ganz andere als die in der Schule. Ich muss mich in Stoff hineindenken, der mir nicht vertraut ist und bin mit den ganz anderen Lehrmethoden meiner Kollegen konfrontiert."

Dazu kommt der organisatorische Wahnsinn. Schulstoff für vier Kinder in unterschiedlichen Klassen organisieren, Struktur in den Tag bringen, den unwilligen Nachwuchs zum Arbeiten animieren und Frustration aushalten, weil die Kinder mit der Stofffülle überfordert sind und ihre Freunde vermissen.

Druckerkartuschen hat sie gekauft und vier Tablets, damit jedes Kind die ausschließlich per Schulcloud bereitgestellten Aufgaben bearbeiten kann. Jetzt ist alles noch eine Motivationsfrage: "Mediale Schulaufgaben waren bislang für die Kinder immer ein Anreiz, sich besonders zu engagieren. Jetzt ist kaum noch Luft nach oben und der Elan, sich in den Schulstoff zu vertiefen, geht verloren." Gockel gesteht: "Ehrlich gesagt bin ich froh, dass ich in dieser Zeit als Schulleiterin täglich in die Schule muss."

Flure markiert Die Rektorin hat ihre Schule Corona-fest gemacht, so gut es geht. Weil ihr Gymnasium erst vor wenigen Jahren eröffnet wurde, hat sie noch keine elfte und zwölfte Klasse, dank einer Kooperation mit der Dresdner Laborschule nehmen sie und ihre Kollegen die Abiturprüfungen von deren Schülern ab. "Wir haben damit im letzten Jahr angefangen und das als Praxistest für unseren eigenen ersten Abiturjahrgang im Frühjahr 2022 gesehen." Eigentlich ging es dabei primär um Inhalte und Abläufe, jetzt steht die Hygiene im Mittelpunkt. Gockel hat Markierungen auf die Flure geklebt, die Tische und Stühle in den Klassenzimmern stehen in großem Abstand.

In Sachsen sind die Schulleitungen dafür verantwortlich, die Hygieneregeln einzuhalten, der Freistaat hat für alle Abiturienten Desinfektionsmittel und Gesichtsmasken zur Verfügung gestellt. Sie sei froh über so viel Eigenständigkeit, sagt die Leiterin, aber sie höre von vielen Kollegen, dass sie überfordert seien mit der Aufgabe.

Wie es künftig mit ihren Schülern weitergeht? Die Frau holt tief Luft. "Ich weiß es einfach nicht. Wir werden eine Lösung finden." Sie gehe davon aus, dass die höheren Klassenstufen vielleicht Ende Mai an die Schule zurückkehren könnten, danach die jüngeren Schüler nachrücken. Ob die Fünfer in diesem Schuljahr noch einmal vor ihr sitzen? "Ich wünsche mir das sehr. Aber ich bin nicht allzu optimistisch, dass wir in einen regulären Schulalltag zurückkehren werden." Gockel überlegt mit ihrem Kollegium, wie ihre Schule konkret den Betrieb wieder aufnehmen kann. Denkbar sei allenfalls verkürzter Unterricht in den Kernfächern, vielleicht im Schichtbetrieb. Kollegen mit eigenen Kindern könnten morgens unterrichten, die anderen nachmittags.

Risikogruppen Dabei gibt es eines zu bedenken: "Wir haben unter unseren Lehrern einige, die zu den Risikogruppen gehören. Die kann ich nicht einsetzen." Gockel erwägt Rotationsmodelle, wobei sich kleinere Schülergruppen an einzelnen Tagen treffen. In ihrem letzten Elternbrief hat sie geschrieben, sie hoffe, dass Schüler, Eltern und Lehrer so bald wie möglich einen Schulalltag in der altbewährten Routine erleben dürften.

Dieser Wunsch ist verbreitet. In Deutschland leben rund 11,4 Millionen Familien mit Kindern und etwa 2,6 Millionen Alleinerziehende. Seit März haben Schulen und Kindertagesstätten geschlossen. Etwa elf Millionen Schüler sitzen seither zu Hause vor Laptops und Arbeitsblättern und werden von den rund 770.000 Lehrerin im Land mit Unterrichtsstoff versorgt. Die Familien sollen helfen und sind doch allzu oft vollkommen überfordert damit. Während Geschäfte wieder öffnen und ab Anfang Mai wieder mehr soziales Leben möglich ist, wird sich das im Schulbetrieb auf absehbare Zeit entweder gar nicht oder nur langsam ändern.

Bund und Länder haben vereinbart, dass die Regelschule ab dem 4. Mai wieder langsam anlaufen kann. Allerdings verfolgen die Bundesländer ganz unterschiedliche Zeitpläne. In einigen Ländern haben Schulen schon am 20. April die Pforten für jene Schüler geöffnet, die Prüfungen ablegen müssen, etwa in Berlin, Sachsen und Nordrhein-Westfalen. In Bayern gibt es ab 27. April wieder Unterricht in Abschlussklassen, in Mecklenburg-Vorpommern können ab 27. April die Klassenstufen 10, 11 und 12 zurückkehren, Rheinland-Pfalz will ab 4. Mai für etwa 30 Prozent der Jungen und Mädchen Unterricht anbieten.

Kitas geschlossen Wann es in den Kindertagesstätten weitergeht, bleibt unklar. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) berät derzeit in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe Leitlinien für eine schrittweise Öffnung. Solange die sozialen Kontakte stark eingeschränkt sind, bleibt den Eltern nur eines: die Betreuung selber sicherstellen und auf bessere Zeiten hoffen. Eine Frau, die dringend auf Konzepte für die Kleinsten wartet, ist Anne Lukas. Die angestellte PR-Beraterin aus Dresden hat zwei Töchter, sieben und dreieinhalb Jahre alt, und hängt nach eigener Aussage derzeit "komplett in der Luft". Zum einen muss sie Kunden betreuen, die für die Agentur bei wegfallenden Aufträgen wichtiger sind denn je. Zum anderen fehlt ein Teil des Familieneinkommens, denn ihr Mann ist Gastronom, seine Cocktailbar ist seit Wochen geschlossen. Viele Kosten laufen weiter, Geld kommt nicht herein. Die Familie hat sich aufgeteilt: Die Frau arbeitet morgens in der Agentur, während ihr Mann sich um die Kinder kümmert. Nachmittags wird getauscht. Vom Homeoffice aus erledigt die Frau dann Anrufe und versucht die Große zu motivieren, "noch ein bisschen Schulzeug zu erledigen."

Riesiger Stress Die Kombination funktioniere bestenfalls mittelmäßig. "Im Grunde wird jede Telefonkonferenz von einem schreienden Kind gecrasht. Und wenn es still ist, kann man hinterher die Schäden besichtigen - verschmierte Wände oder eingesaute Teppiche." Es sei schwierig, den Kindern gerecht zu werden. "Die Große vermisst ihre Freunde und die Kleine ist einfach nicht ausgelastet." In Summe bedeute das alles riesigen Stress.

Inzwischen hat sich zur Unsicherheit, wie es mit Kitas und Schulen weitergehen wird, auch Unmut gesellt. "Wenn ich in der Zeitung lese, dass man jetzt an Konzepten für das digitale Lernen arbeitet, dann frage ich mich, was habt ihr in den letzten fünf Wochen eigentlich gemacht?" Es gebe keinen vernünftigen Plan für das Lernen Zuhause, sagt Lukas. Sie höre, dass die Schüler bestenfalls mit Arbeitsblättern und Aufgaben aus Lehrbüchern versorgt würden. "Bei uns in der Arbeit gibt es jeden Tag Videokonferenzen. Warum geht sowas in der Schule nicht?"

Die Überlegungen der Kultusminister beobachtet Lukas mit einem bangen Gefühl. "Es nützt mir nichts, wenn mein Kind künftig drei Mal die Woche für drei Stunden Unterricht hat. Ich brauche für beide Kinder eine Ganztagsbetreuung, ich habe nämlich eine Vollzeitstelle." Womöglich wäre es besser, sich auf den Schutz von Risikogruppen zu konzentrieren. "Stattdessen werden wir Familien weggesperrt", moniert die Mutter und fügt hinzu: "Für die Kleinsten soll es zuallerletzt wieder Normalität geben, das macht die doch psychisch kaputt."

Bildungsschere Für bessere Lösungen im Sinne der Familien ist auch Lukas' Chefin. Ulrike Lerchl, Geschäftsführerin der Agentur, hat viele Eltern in ihrem Team und lässt ihren Leuten die Wahl zwischen Büro und Homeoffice. "Wir gewähren unseren Müttern und Vätern alle Freiheit, sich der Betreuung ihrer Kinder zu widmen", sagt sie. Der Respekt vor der Doppelbelastung der Eltern ist groß. Doch sie hat auch die wirtschaftliche Situation ihrer Firma im Blick - die Arbeit müsse gemacht werden, weil es sonst schnell keine Jobs mehr gebe. An die Politik hat sie "die klare Forderung, dass die Kitas und Schulen so schnell wie möglich, also ab sofort, geöffnet werden". Man müsse den Eltern die Möglichkeit geben, wieder ihrem Job nachzugehen und "den Kindern ihre Freunde und ein Stück Normalität, Schulalltag und Bildung zurückgeben". Auch dürfe die Schere zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Familien nicht noch größer werden. "Es ist unverantwortlich und vor allem irreparabel, was da gerade an sozialer Vernachlässigung passiert. Das wird die Gesellschaft nachhaltig schädigen", glaubt Lerchl.

Weggesperrt Gesellschaftlichen Schaden erkennt auch die Journalistin Barbara Vorsamer. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit familienpolitischen Themen, mahnt schon lange an, dass die Arbeit, die in Familien geleistet wird, in der Politik stärker wahrgenommen wird. Das passiere aber nicht, "weil jede und jeder, der in Deutschland in Politik oder Wirtschaft einen Chefposten bekleidet, wöchentlich 50 bis 60 Stunden im Job verbringt und eine Ehefrau oder Personal hat, um diese Care-Arbeit zu delegieren". Nach ihrer Beobachtung geraten verschiedene Bevölkerungsgruppen gerade in eine Frontstellung: Familien, von denen erwartet werde, die Kinder wegzusperren, und ältere Risikogruppen, die es besonders zu schützen gelte. "Der Unterschied ist, der 80-Jährige, der in den Baumarkt möchte, kann wählen, der Achtjährige, der gern auf dem Spielplatz toben würde, nicht. Und die Politik nimmt mehr Rücksicht auf die Menschen, die wählen gehen." Sie fordert ein Corona-Elterngeld für Familien, die Kinderbetreuung und Job nicht parallel leisten können. Eine Idee, die auch andere gut finden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung verfolgt ähnliche Überlegungen. Erwerbstätige Eltern sollten nicht nur von ihren Arbeitgebern, sondern auch von staatlicher Seite unterstützt werden. Denkbar wären ein Rechtsanspruch auf reduzierte Arbeitszeit mit Kündigungsschutz und Einkommensersatzleistung.

Vorsamer meint, die Bildungspolitik habe wichtige Innovationen verpasst. Zehn Jahre lang hätten die Kultusminister die Digitalisierung verschlafen, das räche sich nun beim Homeschooling - dem Unterricht daheim. Tatsächlich geben in einer Umfrage mehr als die Hälfte der Lehrkräfte an, sie fühlten sich bei der Umsetzung des Homeschooling schlecht vorbereitet, 53 Prozent der Eltern erklärten, sie müssten sich selbst um digitale Medien für das Lernen kümmern,. 45 Prozent fühlen sich von Schulen und Lehrern unzureichend unterstützt.

Schulleiterin Gockel sieht in der Krise eine Chance für Veränderung: "Ich sage immer: Wann, wenn nicht jetzt?"

Die Autorin ist Journalistin in Dresden.