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Corona-Pandemie : Die Macht der Solidarität

Der Konsens bröckelt, jetzt ist kluges Konfliktmanagement gefragt

20.07.2020
2023-08-30T12:38:20.7200Z
5 Min

Die erste Welle der Pandemie liegt also hinter uns. Während wir in dieser Zeit viel über Viren und ihre Ausbreitung erfahren haben, hat uns auch ein gesellschaftliches Phänomen erstaunt: Die umfassende Solidarität, die sich in den ersten Wochen der Pandemie ausbreitete. Lokal bildeten sich Nachbarschaftshilfen, national erklärten Ethikrat und Bundesregierung Solidarität zum Schlüssel der Krisenbewältigung, und international agiert die Europäische Kommission mit der Maxime "European Solidarity in Action". Im Unterschied zu Finanz- und "Flüchtlingskrise" entfalteten die Solidaritätsappelle und -bekundungen in der Corona-Krise damit eine kohäsive Kraft, die sie in vorangegangen Krisen nie erreicht haben.

Ein Grund für diese besondere Qualität liegt darin, dass die Solidarität in der Corona-Krise auf eine äußere Gefahr reagierte, während es in den vorangegangenen Krisen um innergesellschaftliche Verteilungs- und Wertekonflikte ging. Kommt aber die Bedrohung von außen und betrifft zunächst einmal alle, entfalten Solidaritätsappelle eine größere Wirkung, so wie man es auch in Kriegen und Naturkatastrophen beobachten kann. Schon der klassische Republikanismus kam daher zu dem Schluss, dass derlei Ereignisse trotz ihrer immensen Kosten gelegentlich einen positiven Effekt für die Republik haben können, weil sie die Gemeinschaft der Bürger neu beleben.

Diese Idee ist uns auch bekannt, denn die ersten Wochen der Krise ließen eine neue, solidarischere Gesellschaft greifbar werden. Könnte ausgerechnet Corona ihr den Weg ebnen? Am Ende der ersten Welle darf man aus mehreren Gründen skeptisch sein.

Soziale Kontrolle Zunächst hat sich die Solidarität in Deutschland aber als ein effektiver Krisenbewältigungsmodus erwiesen: Verbunden durch die gemeinsame virale Bedrohung hat das Mitgefühl mit anderen Menschen zu Abstand und Hilfsangeboten motiviert. Dadurch hatte Solidarität nicht nur einen Anteil daran, dass die Infektionszahlen so früh sanken; sie stärkte auch die emotionale Unterstützung für die Maßnahmen, weil sie physische Distanz und soziale Nähe miteinander verbinden konnte.

Diese Quadratur des Kreises gelingt, weil Solidarität stets zwei Elemente zusammenführt. Sie beruft sich auf ein gemeinsames Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich aus einer Situation kollektiver Bedrohung oder geteilten Leids speisen kann. Nicht ohne Grund verwies man in Frankreich und Großbritannien auf historische Momente wie den Kampf gegen Nazi-Deutschland, um die Solidarität anzuregen. Im 'Kampf' gegen das Virus entstand so erneut der Eindruck einer Schicksals- und Leidensgemeinschaft. Aus diesem Zusammengehörigkeitsgefühl leitet Solidarität dann eine moralische Pflicht gegenüber dieser Gemeinschaft ab, die dem Einzelnen auch Opfer abverlangen kann. Aus Mit-Leid wird ein moralischer Imperativ, an dem sich individuelles Handeln orientiert: #stayathome.

Auf diese Weise etabliert Solidarität eine Art zivilgesellschaftlicher Selbstkontrolle. Sie motiviert zunächst einmal Eigeninitiative. So erinnern wir uns daran, dass zahllose Menschen selbstgenähte Masken zur Verfügung stellten, als der Markt der Medizinprodukte versagte. Darüber hinaus sorgt Solidarität aber auch für eine wechselseitige Kontrolle in der Gemeinschaft, die das Verhalten der anderen auf den solidarischen Imperativ prüft.

So wurden diejenigen, die sich in Intensivpflege oder Kita-Betreuung um die solidarische Gemeinschaft verdient machten, zu neuen Heldinnen und Helden erklärt. Gleichzeitig musste unsolidarisches Verhalten mit sozialer Ächtung und Denunziation rechnen. Wer den Mindestabstand verletzte, wurde angefeindet, die Zahl der Anzeigen schnellte in die Höhe, und Urlaubern aus Risikogebieten wird zu verstehen gegeben, dass sie nicht willkommen sind. Wie der Journalist Felix Lill berichtete, gibt es in Japan dafür ein eigenes Wort: Selbstbeherrschungspolizei.

In der solidarischen Gemeinschaft wird also konformes Verhalten prämiert, während abweichendes Verhalten sanktioniert wird. Und auch hier fördert das gute Gefühl, im Namen der Gemeinschaft für die moralisch richtige Sache einzutreten, die Eigeninitiative. Der Soziologe Richard Sennett nennt dies die "perverse Macht der Solidarität". Denn in seinen Augen führt Solidarität in erster Linie dazu, dass das Fremde und Andersartige, dass alternative Lebensentwürfe ausgeschlossen und sogar bekämpft werden. Andere Kommentare haben zurecht darauf hingewiesen, dass Corona vor allem nationale Solidarität förderte, anderes Leid aber schlicht ignoriert wurde.

Das große Versprechen der Solidarität, soziale Einheit mit moralischer Integrität zu verbinden, hat stets Schattenseiten.

Staatliche Herausforderungen Zu unserer Erfahrung gehört aber auch, dass diese Form zivilgesellschaftlicher Selbstkontrolle einen großen Vorteil für das Pandemiemanagement des demokratischen Rechtsstaats hat. Denn wenn man im Pandemiefall der Gesundheit den höchsten Stellenwert einräumt, dann muss man die zahllosen Handlungsmöglichkeiten moderner Gesellschaften radikal beschränken. Eine solche Verhaltensanpassung kann der demokratische Rechtsstaat nicht mit Gewalt erzwingen, ohne ins Autoritäre zu kippen und damit die Loyalität seiner Bürgerinnen und Bürger zu verspielen.

Es ist daher richtig, wenn der Virologe Christian Drosten daran erinnert, dass die Gesundheitsbehörden in der Pandemiebekämpfung auf die Unterstützung und den Konsens der Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind. Genau das stellte Solidarität während der ersten Corona-Welle bereit: Sie erschloss eine andere Quelle der Verhaltenssteuerung, nämlich kollektive Moralität - und entlastete damit den Rechtsstaat.

Drostens Appell beruht aber natürlich auf dem Wissen, dass dieser Konsens längst bröckelt. Die "gesamtgesellschaftliche" Solidarität zerfiel nach kurzer Zeit. Erst sank die Bereitschaft, Freunde und Familie nicht mehr zu treffen, dann auch der Anteil derjenigen, die Masken in Bussen und Bahnen trugen. Der Staat muss dann andere Steuerungsmittel einsetzen, um sich die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger zu sichern, etwa zwangsbewehrtes Recht (also Bußgelder) oder Geld (also Finanzhilfen).

Die Erosion der Solidarität war letztlich absehbar. Erstens braucht praktische Solidarität ein hohes Maß an Emotionalität bei den Menschen, das auf Dauer schwierig zu halten ist. Statt sich um Ansteckungsrisiken Sorgen zu machen, stellt sich eine neue Indifferenz ein.

Komplementär dazu haben wir uns die Vielfalt an Aufgaben und Möglichkeiten in modernen Gesellschaften derart einverleibt, dass wir zwar bereit sein mögen, sie ruhen zu lassen, nicht aber sie aufzugeben. Schließlich sind Demokratien institutionell auf die Produktion von Alternativen angelegt, sodass sich jemand finden musste, der eine Öffnungsperspektive anbietet - und sei es, um damit Stimmen zu gewinnen.

Mit der Erosion der Solidarität treten gesellschaftliche Konflikte wieder stärker hervor, etwa um die Kita-Öffnung oder eine erneute "Abwrackprämie". Es zeigt sich auch, dass die Einstufung "systemrelevanter" Berufe auch nur systemrelativ war: Jetzt wo andere soziale Systeme wieder Fahrt aufnehmen, geraten die Leistungen der Krankenpfleger und Erzieherinnen in Vergessenheit. Und es wird deutlich, dass keineswegs alle gleich von der Pandemie betroffen sind. Solidarität ist in diesen Fragen ein zweischneidiges Schwert: Einerseits schiebt sie sozialen Wandel an, andererseits kann sie aber auch die Polarisierung von Konflikten befördern, wenn sich die gegenüberstehenden Gruppierungen jeweils moralisch im Recht fühlen.

Zentrale Aufgabe Ein kluges Konfliktmanagement wird daher eine zentrale Aufgabe der kommenden Monate sein. Es wird entscheiden, ob sich zumindest an manchen Ungerechtigkeiten etwas ändert. Und ob sich die Spaltungen in den westlichen Gesellschaften noch weiter vertiefen. Dabei kann es nicht darauf hoffen, dass sich die Pluralität der Meinungen in einem einheitlichen Gefühl der Solidarität auflöst. Neuer sozialer Zusammenhalt wird nur möglich sein, wenn alle Seiten Konflikte einkalkulieren.

Der Autor forscht an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Mit-Herausgeber von theorieblog.de.