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BUNDESTAG : Redemarathon um das Wohl der Republik

Die ganztägige Debatte vom Juni 1991 über den künftigen Parlamentssitz gilt noch heute als parlamentarische Sternstunde

24.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
4 Min

Die Hauptstadtfrage war schon im Sinne Berlins im Einigungsvertrag geklärt; "die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung" dagegen, hieß es darin, "wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden". Eine Frage, die die gerade wiedervereinte Republik frisch zu spalten drohte, nicht nur über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg. Auch in der Bevölkerung wurde leidenschaftlich über die Frage "Bonn oder Berlin" gestritten, über Monate hinweg demonstrierten Bürger in Bonn für den Verbleib von Bundestag und -regierung an ihrem bisherigen Sitz, der so provisorisch längst nicht mehr war.

Ausgerechnet ein Ehrenbürger Bonns, der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, befeuerte knapp ein Jahr vor der Bundestagsentscheidung über den Umzug die Kontroverse, als er im Sommer 1990 in Berlin bei der Verleihung der dortigen Ehrenbürgerwürde öffentlich befand: "Hier ist der Platz für die politisch verantwortliche Führung Deutschlands."

Gegner Berlins warnten vor gefährlichen Traditionen, für die sie die Metropole an der Spree in Haftung nahmen, von preußischem Militarismus bis zum Ungeist der NS-Zeit. Für die Befürworter Bonns stand die bescheidener anmutende Stadt am Rhein für ein gelungenes, demokratisches Kapitel deutscher Geschichte; sie beschworen den Föderalismus und warnten vor den Umzugskosten. Das Lager der Berlin-Befürworter mahnte dagegen die Glaubwürdigkeit westdeutscher Solidaritätsadressen aus Teilungszeiten an: Hatte nicht selbst Bonns Oberbürgermeister noch 1989 die Stellvertreterrolle betont, die seine Stadt für Berlin einnehme? Und wo müsste sich die neue Einheit mehr beweisen als in der Stadt des Mauerbaus und Mauerfalls?

Als die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) am 20. Juni 1991 um 10 Uhr als einzigen Tagesordnungspunkt der Sitzung die "Beratung der Anträge zum Parlaments- und Regierungssitz" aufrief, war der Ausgang der zwölfstündigen Debatte im alten Bonner Wasserwerk (siehe Bild oben) völlig offen. Fünf Anträge lagen dem Haus vor. Der "Bonn-Antrag" (12/814), zu dessen Unterstützern neben Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) und CSU-Landesgruppenchef Wolfgang Bötsch namhafte Sozial- und Freidemokraten zählten, zielte auf einen Verbleib von Bundestag und Regierung am Rhein, während Bundespräsident und Bundesrat an die Spree sollten. Der unter anderem von SPD-Ikone Willy Brandt und dem heutigen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) unterzeichnete Antrag auf Drucksache 12/815 wollte dagegen neben dem Staatsoberhaupt auch das Parlament und den "Kernbereich der Regierungsfunktionen" in Berlin wissen bei "fairer Arbeitsteilung" mit Bonn.

Lothar de Maizière (CDU), letzter DDR-Regierungschef, und Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler standen mit unter dem "Konsensantrag Berlin/Bonn" (12/817), der als Kompromiss vorschlug, den Sitz von Bundestag und Bundespräsident nach Berlin zu verlegen, Regierung und Bundesrat aber in Bonn zu belassen. Dagegen forderte ein weiterer Antrag (12/816), die Sitze von Parlament und Regierung dürften "örtlich nicht voneinander getrennt werden". Die Gruppe der PDS/Linke Liste schließlich warb mit ihrem Antrag (12/818) dafür, Berlin zum "Sitz von Parlament und Bundesregierung" zu küren.

Den Aufschlag machte in der Debatte Norbert Blüm: "Lasst dem kleinen Bonn Parlament und Regierung", mit denen Berlin sich nur "viele neue Probleme - Wohnungsprobleme, Raumordnungsprobleme, Infrastrukturprobleme" einhandeln würde.

Der Berliner Abgeordnete und spätere Parlamentspräsident Wolfgang Thierse (SPD) sah im Gegenzug in einer Entscheidung für Berlin einen "durch nichts!" zu ersetzenden Schritt "zur Verwirklichung der politischen, sozialen, menschlichen Einheit Deutschlands". PDS-Mann Gregor Gysi wollte ein solches Votum als "Signal für die neuen Bundesländer" und als Bereitschaft gewertet wissen, "deutsche Geschichte in ihrer Gesamtheit" anzunehmen. Willy Brandt, vor seiner Kanzlerzeit auch Regierender Bürgermeister von Berlin, befand, die Stadt, "in schweren Jahren Vorposten der Freiheit", habe es nicht verdient, "mit einem Ehrentitel ohne sachlichen Inhalt abgespeist zu werden".

Demgegenüber würdigte etwa Gerhart Baum (FDP) Bonn als "Symbol für 40 Jahre erfolgreiche Demokratie", und Horst Ehmke (SPD) warnte, "wer Bonn aus der politischen Geographie und Geschichte dieses Landes streicht, der wird nicht neue Einheit gewinnen, sondern alte Zwietracht wecken".

Helmut Kohl (CDU), der Einheitskanzler, plädierte für Berlin, Parlamentspräsidentin Süssmuth für Bonn, Langzeit-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) für Berlin, der damalige CSU-Chef Theo Waigel für eine "sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn". Für die Spree-Metropole warb wenig überraschend Berlins damaliger Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU), ebenso wie der spätere Bundespräsident Johannes Rau als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ein Plädoyer für Bonn hielt.

Den Ausschlag gab für viele Beobachter die Rede von Wolfgang Schäuble, der nach mehr als zwei Debattenstunden das Wort ergriff. Er erinnerte daran, "dass in 40 Jahren niemand Zweifel hatte, dass Parlament und Regierung nach der Herstellung der Einheit Deutschlands ihren Sitz wieder in Berlin haben werden", und auch "das Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland" sei "wie keine andere Stadt immer Berlin" gewesen. Es gehe bei der Entscheidung aber nicht um Bonn oder Berlin, sondern "um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss".

Mehr als 100 Abgeordnete traten in der Aussprache ans Rednerpult, bis am Abend der Abstimmungsmarathon folgte. Während die PDS ihren Antrag zurückzog, fand der "Konsensantrag" ebenso keine Mehrheit wie der Vorstoß, eine örtliche Trennung von Parlaments- und Regierungssitz auszuschließen. Zur namentlichen Abstimmung standen nun noch der "Bonn-Antrag" und die Brandt-Schäuble-Vorlage pro Berlin. Um 21.47 Uhr gab Süssmuth das Ergebnis bekannt: Von 660 Abgeordneten hatten für den Bonn-Antrag 320 gestimmt und für den Berlin-Antrag 338; einer enthielt sich; eine Stimme war ungültig.

Für Bonn hatten mehrheitlich die Abgeordneten der CSU und der SPD votiert, bei PDS, Bündnisgrünen, FDP und CDU war dagegen die Mehrheit jeweils für Berlin. 15 Tage später, am 5. Juli, entschied der Bundesrat, wie vom Bundestag empfohlen, in Bonn zu bleiben. Auf Antrag von 13 Ländern wurde dieser Beschluss 1996 vom Bundesrat revidiert.