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Stadtentwicklung : Wachstum schmerzt

Gegen die steigenden Miet- und Kaufpreise setzt der Senat auf massive Eingriffe in den Wohnungsmarkt

24.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
4 Min

In Berlin treibt die Wohnungsknappheit seltsame Blüten. Weil sie aus ihrer Wohnung im Stadtteil Wedding ausziehen müssen, entschieden sich der Marketingexperte Matthias und seine Partnerin, die PR-Beraterin Kerstin, für einen ungewöhnlichen Weg: Sie bauten eine eigene Website und buhlen nun unter www.kerstin-und-matthias-suchen-eine-wohnung.de um die Aufmerksamkeit potenzieller Vermieter. Mit Eigenwerbung sparen sie dabei nicht: Sie seien, heißt es auf ihrer Homepage, "ein junges, dynamisches Paar mit Vollzeit-Jobs in verhältnismäßig krisenfesten Branchen" und hätten "keine Kinder, keine Haustiere, kaum schlechte Angewohnheiten".

Die innovative Wohnungssuche wirft ein Schlaglicht auf die angespannte Situation auf dem hauptstädtischen Wohnungsmarkt. Nach den jüngsten Zahlen des Verbandes Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) stehen nur 1,6 Prozent der Wohnungen leer. Seit Jahren steigen Wohnungsmieten und -kaufpreise so stark wie in kaum einer anderen Stadt. Und auch die Fluktuation, die als ein Indikator des Wohnungsmarkts gilt, ist so niedrig wie selten: Nur noch fünf Prozent der Berliner ziehen jährlich um.

Um zu verstehen, warum die Wohnungsfrage in der deutschen Hauptstadt ein überall präsentes Gesprächsthema ist, muss man einige Jahre zurückblicken. Lange war die Situation für Wohnungsmieter und -käufer an der Spree nämlich nahezu paradiesisch. Von der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bis etwa 2010 war die Auswahl an Wohnungen groß, und entsprechend günstig waren Mieten und Preise. Das hatte vor allem zwei Gründe: Zum einen erlebte die Hauptstadtregion nach dem Fall der Mauer einen Bauboom, der es vielen Berlinern ermöglichte, ihren Traum vom Einfamilienhaus auf der grünen Wiese zu erfüllen. Zum anderen erwiesen sich die Erwartungen einer stark steigenden Einwohnerzahl als trügerisch - im Gegenteil lebten immer weniger Menschen in Berlin.

Das aber hat sich gründlich geändert. Zwischen 2010 und 2019 erhöhte sich die Einwohnerzahl um gut elf Prozent. Bis zum Jahr 2030 erwartet das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg ein weiteres, wenn auch abgeschwächtes Wachstum auf 3,925 Millionen Einwohner. In historischer Perspektive ist das allerdings nicht sonderlich beeindruckend. Denn im Jahr 1939 zählte Berlin gut 4,3 Millionen Einwohner - und damals gab es die nach dem Krieg errichteten Großsiedlungen noch nicht. Auch das Wachstum der letzten Jahre ist vergleichsweise moderat: In der Gründerzeit nach 1870 dauerte es nur etwas mehr als 20 Jahre, bis sich die Einwohnerzahl der Stadt verdoppelt hatte. Zudem hat die heutige Wohnungsknappheit weit weniger dramatische Ausmaße als die Wohnungsnot vor und nach dem Ersten Weltkrieg, als mehrköpfige Familien unter elenden Bedingungen in Ein-Zimmer-Wohnungen hausten.

Damals gelang es allerdings privaten und genossenschaftlichen Bauherren, innerhalb kurzer Zeit ganze Quartiere hochzuziehen, die - man denke an die Reformsiedlungen der 1920er Jahre - noch immer begehrte Wohnadressen sind. Heute jedoch verfehlt der rot-rot-grüne Berliner Senat sein selbstgestecktes Ziel von jährlich 20.000 Neubauwohnungen.

"Es fehlt in Berlin an einem klaren politischen Bekenntnis zur wachsenden Stadt", kritisiert deshalb Michael Schlatterer, Wohnungsexperte beim Immobilienberater CBRE. "Berlin braucht Neubau", heißt es auch beim Wohnungsverband BBU. Thomas Groth, Berliner Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW), fordert, der Senat müsse "endlich landeseigenes Bauland zur Verfügung stellen und alle Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen". Sebastian Scheel (Die Linke), neuer Senator für Stadtentwicklung und Wohnen, räumt ein: "Die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist weiterhin angespannt. Deshalb hat die Schaffung von leistbarem Wohnraum, insbesondere auf landeseigenen Flächen, Priorität."

Solche unbebauten Flächen gibt es - im Unterschied zu anderen Großstädten - noch reichlich. Bekanntestes Beispiel ist der ehemalige Flughafen Tempelhof, dessen riesiges Areal in bester Innenstadtlage allerdings gemäß einem Volksentscheid aus dem Jahr 2014 unbebaut bleiben soll. Hingegen ist auf dem Gelände des Flughafens Tegel, der im Herbst geschlossen wird, neben einem Industrie- und Gewerbepark auch ein Quartier mit gut 5.000 Wohnungen geplant. Weitere städtebauliche Großprojekte sollen beispielsweise im Blankenburger Süden (bis zu 6.000 Wohnungen) und in Lichterfelde-Süd (2.500 Wohnungen) realisiert werden.

Eins aber ist fast allen diesen Vorhaben der Stadterweiterung gemeinsam: Stets erhebt sich Protest von Anwohnern. Gegen die Pläne für den Blankenburger Süden etwa ziehen gleich mehrere Bürgerinitiativen zu Felde. "Gegen Naturvernichtung, Investoren, den Ausverkauf von landeseigenen Flächen und Bauwahnsinn" positioniert sich etwa "Wir sind Blankenburg". Nicht besser ergeht es vielerorts Plänen, die großzügigen Innenhöfe von Wohnanlagen aus der Nachkriegszeit zu bebauen. Es gelte, "die durch Nachverdichtung drohende Zerstörung von wohnungsnahen Grünflächen in unseren Wohnquartieren abzuwenden", argumentieren elf Berliner Bürgerinitiativen in einem offenen Brief.

Während der Wohnungsbau somit nicht so recht auf Touren kommt, läuft die politische Maschinerie in einem anderen Bereich auf Hochtouren: bei der Reglementierung des Wohnungsmarkts. Bundesweite Schlagzeilen macht der Berliner Mietendeckel, der die Mieten (mit Ausnahme derjenigen von Neubauwohnungen) strikt begrenzt. Das verfassungsmäßig hoch umstrittene Instrument verhindere Neubau und verschlimmere damit die Situation, argumentieren Kritiker. Die Zahlen stützen diese These allerdings nicht: Im ersten Halbjahr 2020 genehmigten die Behörden den Bau von 12.788 Wohnungen, was einer Zunahme um fast 13 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht.

Ebenfalls äußerst umstritten ist das Vorkaufsrecht, das Bezirke in Milieuschutzgebieten anwenden. Das Baugesetzbuch ermöglicht es dort der öffentlichen Hand, beim Verkauf eines Wohnhauses in den Kaufvertrag einzutreten. Darüber hinaus setzt der Senat auf den Ankauf von Wohnungsbeständen auch außerhalb dieser Gebiete. Ende 2019 erwarb die landeseigene Gesellschaft Gewobag für 920 Millionen Euro knapp 6.000 Wohnungen in Spandau und Reinickendorf - wobei pikanterweise das Land Berlin dieselben Wohnungen Jahre zuvor für sehr viel weniger Geld an einen privaten Investor veräußert hatte. Manchen gehen diese Maßnahmen nicht weit genug. Eine Initiative mit dem Namen "Deutsche Wohnen & Co enteignen" fordert, die Bestände privater Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin zu vergesellschaften, wobei sie sich auf Artikel des 15 des Grundgesetzes stützt. Eine Volksabstimmung könnte 2021 stattfinden.

Und wie steht es derweil um das verzweifelt eine Wohnung suchende Paar Kerstin und Matthias? Ein Blick auf ihre Homepage verrät: Zumindest bis Redaktionsschluss haben sie ihr Traumdomizil noch nicht gefunden.