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Klimapolitik : Berliner Moorpflege

Mit dem Berliner Energiewendegesetz hat sich der rot-rot-grüne Senat ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Bis 2050 soll die Stadt 85 Prozent weniger Kohlendioxid…

24.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
6 Min

Ein Moor ist nicht unbedingt etwas, was man in der deutschen Hauptstadt vermuten würde. Aber in Berlins eiszeitlich geprägter Landschaft gibt es sogar etliche dieser Feuchtgebiete: ganze 76 nach offizieller Zählung. In letzter Zeit war häufiger die Rede von ihnen, denn neben Wäldern können sie Kohlenstoff binden und damit der Atmosphäre das Klimagas Kohlendioxid entziehen: "CO2-Senke" nennt die Klimawissenschaft einen Ort mit dieser Eigenschaft.

Weil manche Berliner Moore durch sinkendes Grundwasser auszutrocknen drohen, wird eines jetzt zu Testzwecken künstlich beregnet. Die Moorpflege ist Bestandteil des "Berliner Energie- und Klimaschutzprogramms 2030" (BEK 2030), einer umfangreichen Sammlung von Maßnahmen, die der rot-rot-grüne Senat beschlossen hat, um die globalen Klimaziele auf Landesebene zu verwirklichen. Rund 94 Millionen Euro stehen für ihre Umsetzung zwischen 2017 und 2021 bereit.

Aber so grün die Hauptstadt ist, so wenig kann ihre Natur die gewaltigen Mengen an Kohlendioxid ausgleichen, die die knapp 3,8 Millionen Einwohner in die Atmosphäre blasen. In den Mooren und Wäldern ist insgesamt weniger Kohlendioxid gebunden, als die Stadtgesellschaft in einem einzigen Jahr erzeugt: 19,1 Millionen Tonnen nach der jüngsten amtlichen Statistik von 2017. Immerhin schon sehr viel weniger (34,6 Prozent) als im Vereinigungsjahr 1990, das für Klimabilanzen in Deutschland als Basis herangezogen wird.

2020 dürfen es eigentlich höchstens 17,5 Millionen Tonnen sein. 40 Prozent weniger als 1990, so steht es in Berlins Energiewendegesetz. Und das ist erst der Anfang: Bis 2030 schreibt das Gesetz ein Minus von 60 Prozent vor, und für 2050 gilt ein Reduktionsziel von 85 Prozent.

Käme es so, produzierte ganz Berlin nur noch 4,4 Millionen Tonnen CO2 im Jahr. Eine ausreichend geringe Menge, um die in Paris beschlossene Grenze von zwei Grad globaler Erwärmung einzuhalten - vorausgesetzt natürlich, der Rest der Welt macht mit. "Klimaneutral" wäre die Stadt dann: So steht es in einer umfangreichen Machbarkeitsstudie, noch von der rot-schwarzen Vorgängerregierung in Auftrag gegeben und 2014 vorgelegt.

"Klimaneutralität bis 2050 ist ein ambitioniertes Ziel", schrieben damals die beteiligten Wissenschaftler vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Sie hielten es bei großen politischen Anstrengungen trotzdem für erreichbar und skizzierten die notwendigen Maßnahmen - angefangen beim Ausstieg aus der Kohlenutzung und dem massiven Ausbau der Solarenergie.

Wenig Erneuerbare Energie Dabei kann sich Berlins Klimabilanz im Bundesvergleich sehen lassen: Mit 4,8 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr, bezogen auf den sogenannten Primärenergieverbrauch, lag das Bundesland im Jahr 2016 weit unter dem deutschen Mittel von 7,9 Tonnen und ziemlich genau im weltweiten Schnitt.

Allerdings bildet die Statistik nur ab, was in einem Gebiet bei der Erzeugung und der Nutzung von Energie geschieht, sei es durch eine Maschine, eine Heizung, ein Auto oder einen Fön. Der klimatische Fußabdruck von Waren verbleibt am Ort ihrer Herstellung - und Berlin hat kaum Industrie. Außerdem legen Großstädter vergleichsweise kurze Wege zurück. Das erste sorgt für einen rechnerischen, das zweite für einen realen Klimabonus.

Eine andere Zahl ist schon weniger schmeichelhaft: Erneuerbare Energie "made in Berlin" kann gerade einmal drei Prozent des Strombedarfs der Metropole decken. Die tatsächliche Grünstrom-Quote von über 20 Prozent wird durch Import ermöglicht, vor allem aus Brandenburg, das rechnerisch rund drei Viertel seines Stromverbrauchs aus Wind, Sonne und Biomasse decken kann. Während die Braunkohleverbrennung im großen Stil schon 2017 endete, erzeugen weiterhin zwei Kraftwerke an der Spree Fernwärme und Strom aus Steinkohle. Spätestens 2030 soll das vorbei sein, auch das steht im Energiewendegesetz.

Zwar hat die Landespolitik keinen direkten Einfluss auf die Investitionsentscheidungen von Hauptversorger Vattenfall, dem die Kraftwerke gehören, aber der schwedische Staatskonzern will ohnehin klimafreundlicher werden. Diese Konstellation ermöglichte es, dass Senat und Konzern eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gaben, die sie Ende 2019 gemeinsam präsentierten.

Das Ergebnis: Der Abschied vom schmutzigen Brennstoff bis 2030 sei "technisch und zu preiswürdigen Kosten machbar", so die Senatsverwaltung für Klimaschutz. Allein das wäre eine Einsparung von mehr als zwei Millionen Tonnen Kohlendioxid, 13 Prozent des Berliner CO2-Ausstoßes.

Möglich werden soll das durch ein großes Gaskraftwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung, das erst mit Erdgas, später mit synthetischem, nicht-fossilem Gas betrieben werden soll. Hinzu käme ein Mix aus Geothermie, Biomasse, aber auch der Rückgewinnung von Abwasserwärme. Das Konzept ist ausgesprochen innovativ, man darf gespannt sein, wie es die weiteren Planungsrunden übersteht.

Masterplan "Solar City" In Sachen Strom steht Berlin seit Jahren vor einem Paradox. Mit den Stadtwerken gibt es einen landeseigenen Versorger, der aus Klimaschutzperspektive alles richtig macht: Das Unternehmen verkauft günstigen Ökostrom, errichtet Windräder auf Flächen in Brandenburg und baut Photovoltaik auf landeseigene oder genossenschaftliche Gebäude. Trotzdem bleibt es ein Zwerg neben dem Platzhirsch Vattenfall.

Die ebenfalls grün geführte Senatsverwaltung für Wirtschaft und Energie hat mittlerweile einen "Masterplan Solar City" aufgestellt: Durch Förderung und Beratung soll künftig ein Vielfaches an Solarstrom auf Berliner Dächern erzeugt werden, statt derzeit 0,7 Prozent des landesweiten Verbrauchs ganze 25 Prozent. Schon jetzt ist ein Förderprogramm aktiv, das Zuschüsse an Hauseigentümer vergibt, die ihre Anlage mit einem Stromspeicher aufwerten wollen.

Ebenfalls an Eigentümer richtet sich eine Förderlinie, mit der es den restlichen 60.000 Ölheizungen an den Kragen gehen soll. Auch wer eine alte, ineffiziente Gasheizung oder einen Kohleofen - ja, die gibt es noch - gegen eine moderne Gasheizung oder eine Pelletanlage austauscht, hat Anspruch auf einen Zuschuss.

Tatsächlich verursacht Heizenergie fast die Hälfte der Berliner CO2-Emissionen, was in der Energiedebatte, die stark auf Verkehr (Seite 7) und Strom fokussiert ist, zu wenig beleuchtet wird. Deshalb gibt es vom Senat auch Zuschüsse und Zinsvergünstigungen für energetische Modernisierungen. Allerdings, sagt Jan Thomsen, der Sprecher von Umweltsenatorin Regine Günther, "ist es in einer Mieterstadt wie Berlin besonders hinderlich, dass der Bund noch immer keine überzeugenden Antworten auf das Mieter-Vermieter-Dilemma vorgelegt hat: Es muss erheblich investiert werden in die energetische Sanierung, zugleich sollten die Mieten stabil bleiben."

Die Frage, ob Berlin in Sachen Klimaschutz auf dem richtigen Weg ist, kann Fritz Reusswig, Mitautor der Studie "Klimaneutrales Berlin 2050" von 2014, nicht so ohne Weiteres beantworten. Einerseits, so der Wissenschaftler vom Potsdam-Institut, arbeiteten die energie- und klimapolitischen Akteure der Koalition engagiert zusammen. Mit einer gewissen Zeitverzögerung würden die Maßnahmen auch greifen.

Aber: "All diese Instrumente könnten nun doch nicht ausreichen", so Reusswig. Um die globale Klimaerwärmung nach Möglichkeit bei 1,5 Grad zu begrenzen, plädierten viele Wissenschaftler mittlerweile für einen noch radikaleren Schnitt: "Wenn wir in Berlin Paris-konform sein wollen, müssen wir nicht um 85 Prozent reduzieren, sondern um 95 Prozent." Macht im Jahr 2050 gerade noch 1,5 Millionen Tonnen Kohlendioxid.

Klimawirkung von Gesetzen Zivilgesellschaftliche Gruppierungen wie "Fridays For Future" und Co. haben diesen Impuls aufgegriffen und großen öffentlichen Druck erzeugt. Die "Volksinitiative Klimanotstand" sammelte im vergangenen Jahr 44.000 Unterschriften und erzwang eine Anhörung im Berliner Abgeordnetenhaus. Das blieb nicht folgenlos: Im Dezember rief der Senat auf Vorlage von Senatorin Günther die "Klimanotlage" aus und versprach, das 85-Prozent-Ziel noch vor 2050 zu unterschreiten. Dass es 95 Prozent werden, ist eher unwahrscheinlich. Das Energiewendegesetz soll dahingehend verschärft werden, außerdem wird die Vorbildfunktion der öffentlichen Hand verstärkt - und alle Entscheidungen des Senats werden künftig routinemäßig auf ihre Klimawirkung geprüft.

Was das konkret bedeutet, darüber gehen die Meinungen auseinander. Der Grünen-Abgeordnete Georg Kössler fordert schon länger einen "Klimavorbehalt", bei dem die Senatsverwaltung für Klimaschutz ein Vetorecht erhielte. Dem Vernehmen nach ist aber nur ein "Klimacheck" für die Effekte von Gesetzen oder Verordnungen in Arbeit. Kössler übt sich in Geduld: "Ich werde das weiter einfordern", sagt er, "spätestens im Wahlkampf 2021 steht der Klimavorbehalt dann zur Abstimmung."

Fritz Reusswig hat noch eine andere Sorge: Sein Eindruck sei, so der Potsdamer Wissenschaftler, dass einige Senatsverwaltungen, aber auch manche der zwölf Bezirke gar nicht wirklich aktiv würden. Der eher schleppende Mittelabruf könne ein Zeichen dafür sein. Reusswig schlägt vor, dass der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) den Klimaschutz zur Chefsache macht: "Als ehemaligem Umweltsenator sollte ihm das eigentlich nicht so schwer fallen."

Der Autor ist Redakteur für Umwelt, Mobilität und Klimaschutz der taz Berlin.