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LOKALKolorit : Separatisten am Schlachtensee

Berlins 97 Ortsteile vermitteln heimatliche Gefühle in der Millionenmetropole

24.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
5 Min

An einem heißen Sommertag stieg ich in die S1 und ließ in südwestlicher Richtung das Stadtzentrum hinter mir. In Schlachtensee stieg ich aus. Der gleichnamige S-Bahnhof lag damals genau an der Grenze zwischen Zehlendorf und Nikolassee, zweien von insgesamt 96 Berliner Ortsteilen. Die drei Herren, die mich am Bahnhof in Empfang nahmen, sahen das allerdings anders. "Willkommen in Schlachtensee", rief ihr Wortführer. "Willkommen in Berlins 97. Ortsteil!" Triumphierend grinsten die drei. So, dachte ich, sehen also Berliner Separatisten aus.

Die Begegnung war keine zufällige. Sie hatte mit einer Kolumne zu tun, die ich zu jener Zeit für den "Tagesspiegel" schrieb, um sie später als Buch zu veröffentlichen. Jede Woche reiste ich quer durch die Stadt, um in alphabetischer Reihenfolge Berlins kleinste Verwaltungseinheiten zu porträtieren. Statt Schlachtensee hätte auf meiner Liste als Nächstes eigentlich Schmargendorf gestanden - wäre da nicht dieser Leserbrief gewesen. Er hatte mich nach meinem Beitrag über Nikolassee erreicht, jenen Ortsteil, dem damals die westlichen Hälften des Schlachtensees und der gleichnamigen Villenkolonie zugerechnet wurden, während ihre Osthälften als Teil von Zehlendorf galten.

Bürgerinitiative Das aber, erklärte mir der Leserbriefschreiber, sei eine große stadthistorische Ungerechtigkeit. Das komplette Gewässer und die gesamte Villenkolonie seien vielmehr Teil eines unterdrückten, weil offiziell nicht anerkannten Ortsteils namens Schlachtensee, für dessen Unabhängigkeit er seit Langem mit einer Bürgerinitiative kämpfe.

Ein paar Wochen später stand der Leserbriefschreiber dann also vor mir. Mit zwei Mitstreitern führte er mich durch den Möchtegern-Ortsteil Schlachtensee - vorbei am S-Bahnhof ("älter als der von Nikolassee!"), der Villenkolonie ("früher gegründet!"), dem Marktplatz ("besserer Fisch!") und der berühmten Bankfiliale, die 1995 durch einen selbstgegrabenen Tunnel ausgeraubt wurde ("selbst unsere Diebe sind cleverer!"). Die Komparative prasselten nur so auf mich ein - in allen Punkten triumphierte Schlachtensee über die Nachbarortsteile, aus deren Umklammerung der Kiez befreit werden musste.

Während ich den Ausführungen zuhörte, ging mir der eine oder andere Gedanke durch den Kopf, der mich bei meinen Berlin-Spaziergängen seit Längerem begleitete. Begonnen hatte das ganze Projekt mit dem Gefühl, dass ich die Stadt nach 20 Jahren als Berliner zwar in Teilen sehr gut, aber überwiegend nur sehr ausschnittsweise kannte. Als ich durchzählte, in wie viele der 96 Ortsteile ich schon einmal einen Fuß gesetzt hatte, kam ich auf 41. Nicht einmal die Hälfte also, und selbst darunter waren viele, von denen ich kaum mehr als einen S-Bahnhof kannte.

Dabei war ich so oft mit dem Gedanken aufgewacht: Du müsstest mal irgendwo hinfahren, wo du noch nie warst. Irgendwohin, wo du auch ohne guten Grund nie landen würdest, in eine der vielen kleinen unbekannten Ecken, aus denen diese große Stadt besteht. Wenn ich dann abends einschlief, hatte ich den Tag meist aber doch wieder nur in jenen altbekannten Innenstadtteilen verbracht, aus denen man ohne guten Grund schwer rauskommt - weshalb sich selbst die größten Städte oft verblüffend klein anfühlen.

So keimte eine Idee in mir: Ganz Berlin abwandern - Ortsteil für Ortsteil. Nicht lange überlegen, keinen Grund suchen, einfach blind hinfahren und loslaufen. Stromern, stöbern, Leute anquatschen, Abenteuer erleben. Ziemlich genau zwei Jahre habe ich damit verbracht. Von A bis Z, von Adlershof bis Zehlendorf bin ich durch die Stadt gereist. Neben unzähligen lokalen Entdeckungen verdanke ich diesen Ortsteilwanderungen auch ein paar allgemeinere Erkenntnisse über Berlin. Etwa, dass es in kaum einer anderen Stadt so viele Friseure mit Kalauer-Namen geben dürfte (mein Favorit: "Mata Haari" in Friedenau). Oder, dass in Berlins Zentralbezirken zwar die typischen fünfstöckigen Mietshäuser dominieren, gleichzeitig aber ein überraschend großer, wenn nicht gar der größere Teil der Stadtfläche mit Einfamilienhäusern bebaut ist. Oder auch, dass einem das Wohlstandsgefälle Berlins erst so richtig bewusst wird, wenn man einmal mitgehört hat, worum sich die Mittagsgespräche im Altglienicker Kosmosviertel und am Zeltinger Platz in Frohnau drehen.

Grenzverschiebungen Erwandert habe ich mir außerdem Antworten auf die Frage, was Berlins Unterteilung in Ortsteile eigentlich bedeutet. Die Stadt erlebte ihre letzte maßgebliche Ausdehnung im Jahr 1920, als die alten preußischen Gemeindegrenzen ruckartig auf Metropolenformat erweitert wurden. Seitdem haben sich die äußeren Stadtumrisse nur noch unwesentlich verschoben. Berlins innere Grenzen dagegen blieben in ständiger Bewegung - zahllose Gebiets- und Bezirksreformen haben die Anzahl und Dimensionen der Ortsteile stetig verändert.

Politisch ohne Bedeutung Das Ergebnis dieser jahrzehntelangen Grenzverschiebungen ist eine nicht immer ganz logische Stadtstruktur. Der Halensee etwa liegt aus unerfindlichen Gründen nicht im gleichnamigen Ortsteil Halensee, sondern im Nachbarortsteil Grunewald. Der Wasserturm Hermsdorf findet sich in Frohnau, das Hundeauslaufgebiet Frohnau in Hermsdorf, der Bahnhof Lichtenberg in Rummelsburg, der Flugplatz Gatow in Kladow. Erkennbar decken sich die heutigen Grenzen der Ortsteile also nicht immer mit den historisch gewachsenen Kiezen, deren Namen sie tragen.

Konsequenzen hat das keine, da die Ortsteile verwaltungstechnisch eh kaum von Bedeutung sind - die politische Gestaltungsmacht liegt bei den übergeordneten zwölf Bezirken, die anders als ihre Untereinheiten eigene Rathäuser, Bürgermeister und Volksvertretungen haben. Die Ortsteile dagegen sind mehr oder weniger symbolische Einheiten, die weder mit den Wahlbezirken identisch sind noch mit den Postleitzahlbereichen, den Kirchgemeinden oder den Planungsräumen der Berliner Statistiker. In vielen Fällen sind sie nicht einmal deckungsgleich mit dem, was die Berliner als Anfang und Ende ihres Kiezes wahrnehmen: Viele, die im Südwestteil von Schöneberg leben, halten sich für Friedenauer, viele Gesundbrunnener nennen sich Weddinger.

Offiziell anerkannt Ihren Sinn haben die Ortsteile trotzdem, denn in der Regel sind sie in Berlin die kleinste Messeinheit der Selbst- und Fremdverortung. Sie sind die städtischen Schubladen, in die man sich und andere steckt, um miteinander über Berlin reden zu können. Man könnte auch sagen: Sie sind Heimat.

Genau das macht sie so wichtig für Lokalpatrioten wie die Separatisten von Schlachtensee. Deren Unabhängigkeitskampf war inzwischen übrigens von Erfolg gekrönt. Knapp zwei Jahre nach meiner Begegnung mit dem forschen Dissidententrupp wurde Schlachtensee von offizieller Seite im Mai dieses Jahres in den Rang des 97. Berliner Ortsteils erhoben. Geändert hat sich für die Bewohner der neuen Nummer 97 dadurch freilich wenig. Außer natürlich, dass sie jetzt stolz darauf sein können, in einem eigenen Ortsteil zu leben. Jens Mühling

Jens Mühling arbeitet als freier Autor. Sein Buch "Berlin - Spaziergänge durch alle 96 Ortsteile" erschien im Rowohlt-Verlag.