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Amri-ausschuss : Draußen vor der Tür

Eine Oberstaatsanwältin erinnert sich an eine Unterredung in der Kälte

20.01.2020
2023-08-30T12:38:11.7200Z
4 Min

Kalt war es draußen. Das sitzt der Zeugin in den Knochen, als wäre es gestern gewesen: "Ich hatte meine Jacke nicht mitgenommen." Sie hatte ja eigentlich nicht bis vor die Tür gehen wollen, und wenn, dann nur für einen Augenblick. Noch etwas anderes steht ihr nach fast vier Jahren frisch vor dem inneren Auge: Dass die Herren in der Runde allesamt keinen Anzug mehr trugen. Auf die Detailtreue ihres Erinnerungsvermögens kann sich die Karlsruher Oberstaatsanwältin Claudia Gorf offenbar verlassen. Für den 1. Untersuchungsausschuss ("Breitscheidplatz") in der vorigen Woche war das ein Glücksfall.

Wie war das genau am Abend des 23. Februar 2016, als eine Handvoll Staatsanwälte und Polizisten sich in einem Restaurant der Karlsruher Innenstadt zum Essen verabredet hatten? Wer saß neben wem? Was wurde geredet? "Ich bin etwas nach dem verabredeten Zeitpunkt eingetroffen", berichtete Oberstaatsanwältin Gorf den Abgeordneten, irgendwann zwischen 18 und 19 Uhr. Die Herren vom nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt (LKA) waren schon da, unter ihnen Kriminalhauptkommissar M., mit dem die Zeugin seit einigen Monaten in einem Ermittlungsverfahren eng kooperierte.

Sie habe kaum Platz genommen, da habe M. sie angesprochen. Ob er etwas Vertrauliches mit ihr bereden könne? Sie hätten sich nach einem ruhigen Winkel umgetan, in dem überfüllten Restaurant aber keinen gefunden, und seien schließlich vor der Tür gelandet. "Sie werden mir nicht glauben, was mir Herr Klein nach der Besprechung gesagt hat", habe der Kriminalhauptkommissar die Unterredung eröffnet, und dann eine Geschichte erzählt, aus der der Zeugin einige Schlüsselworte exakt im Gedächtnis geblieben sind. Von einer Anweisung "von oben" sei dabei die Rede gewesen, vom "Kaputtschreiben" und davon, dass jemand "zu viel Arbeit" mache.

Seit dem 14. November vergangenen Jahres hat der Ausschuss diese Formulierungen immer wieder gehört, seitdem Kriminalhauptkommissar M. sie dort erstmals vorgetragen hatte. Der Düsseldorfer LKA-Beamte hatte seit Juli 2015 die Ermittlungskommission (EK) "Ventum" geleitet. Sie hatte einen Islamistenkreis um den Hildesheimer Hassprediger Abu Walaa im Visier, wo seit November 2015 auch der spätere Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri angedockt hatte. Mit Informationen aus dem Innersten des Abu-Walaa-Zirkels versorgte ein Vertrauensmann die Ermittler, der neuerdings unter dem Kürzel "VP01" auch weiteren Kreisen bekannt wurde.

Zweifel an der Quelle Im Düsseldorfer LKA galt der Mann als Top-Quelle, hoch kompetent, bestens vernetzt, zuverlässig, vertrauenswürdig. In der Berliner Dienststelle des Bundeskriminalamtes (BKA) gab es Kollegen, die das anders sahen, die beiden Ersten Kriminalhauptkommissare Jan Rehkopf und Philipp Klein. Sie waren Anfang 2016 mit der Bewertung der Gefährlichkeit radikaler Islamisten befasst, und was die "Vertrauensperson" aus Nordrhein-Westfalen lieferte, überzeugte sie nicht.

So wollte die "VP01" von Anis Amri erfahren haben, dass dieser einen Einbruchsdiebstahl plante, um mit der Beute die Beschaffung von Schnellfeuerwaffen zu finanzieren, mit denen er dann wiederum einen Anschlag verüben wollte. Schon das sei ihm reichlich schräg vorgekommen, sagte Rehkopf in der vorigen Woche dem Ausschuss. Noch skeptischer sei er geworden, als ihm der Kollege Klein erzählt habe, die VP01 habe exakt dasselbe Szenario unabhängig von Amri noch von einem anderen Kumpan Abu Walaas vernommen. Konnte das sein?

Am 4. Februar 2016 verfasste Rehkopf eine "Gefährdungsbewertung", in der er es als "eher auszuschließen" beurteilte, dass es tatsächlich zu einem Anschlag der geschilderten Art kommen werde. Bei der Bundesanwaltschaft schlug der Schriftsatz wie eine Bombe ein. Das ganze Ermittlungsverfahren gegen Abu Walaa und seine Clique stützte sich im Wesentlichen auf Erkenntnisse der VP01. Welcher Ermittlungsrichter sollte noch glauben, dass der Verein gefährlich war, wenn das BKA selber die Angaben der Quelle für gegenstandslos erklärte? Für den 23. Februar lud der zuständige Bundesanwalt Horst Salzmann zum Krisentreffen nach Karlsruhe.

"In der Besprechung ging es von Anfang an hoch her", erinnerte sich die Zeugin Gorf. Ihr Referatsleiter Salzmann sei recht massiv aufgetreten. "So kann das nicht gehen", habe er gepoltert und "sehr deutlich" gemacht, dass er vom BKA eine Neubewertung erwarte. Zwei V-Mann-Führer aus Nordrhein-Westfalen hätten die Glaubwürdigkeit ihrer Quelle in überzeugender Weise untermauert. Rehkopf habe sich davon erkennbar beeindrucken lassen, Klein nicht. Bis zuletzt und fast allein gegen alle habe er die Ansicht verfochten, die Angaben der VP01 seien wertlos. Am Ende stand dennoch die Vereinbarung, dass das BKA eine revidierte Bewertung liefern wollte. Für den Abend verabredeten sich einige Teilnehmer zum Essen.

Geplante Demontage? Dann soll sich die Episode ereignet haben, die den Ausschuss seit zwei Monaten beschäftigt. Unter vier Augen habe der BKA-Beamte Klein dem Hauptkommissar M. anvertraut, er handele auf Weisung von "ganz oben". Die VP01 sei "kaputtzuschreiben", weil sie "zu viel Arbeit" mache. Der Ausschuss hat mittlerweile den Zeugen Klein gehört, der rundheraus bestreitet, dass ein solches Vieraugengespräch jemals stattgefunden hat. Der Düsseldorfer Kollege M. war jedenfalls entgeistert. Wollte das BKA tatsächlich eine hochkarätige Quelle demontieren? Und damit das Verfahren gegen Abu Walaa in den Grund bohren?

Er habe noch "emotional" und "aufgebracht" gewirkt, als er am Abend auf dem Weg vom Hotel ins Restaurant von dem Vorfall erzählt habe, erinnerte sich in der vorigen Woche der Düsseldorfer Kriminaldirektor W. Auf dessen Rat hin habe M. schließlich die Zeugin Gorf eingeweiht. Auch sie hatte nach eigenen Worten den "äußerst gewissenhaften" und "professionellen" Beamten noch nie so "konsterniert" und "fassungslos" erlebt wie an jenem Abend. Dass M. ihnen damals eine wahre Begebenheit geschildert hat, bezweifeln weder der Zeuge W. noch die Oberstaatsanwältin Gorf.