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Brexit : Harte Probe

Seit 1. Januar ist das Vereinigte Königreich im Verhältnis zur EU nur noch ein Drittstaat. Vom Nordirland-Konflikt bis zu Au-Pairs richtet der britische EU-Ausstieg…

08.03.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
4 Min

Als "ofenfertigen" Deal hatte Boris Johnson das angestrebte Abkommen seines Landes mit der Europäischen Union einst angepriesen. Kaum zehn Wochen nach Ende der Übergangszeit ist der britische Premier stattdessen mit einer schwierigen Realität konfrontiert. Das Vereinigte Königreich ist im Verhältnis zur EU nur noch ein Drittstaat. Der am Heiligabend geschlossene Vertrag ist dünn, der Teufel steckt im Detail. Für die britische Wirtschaft enorm wichtige Fragen wie etwa der Handel in Dienstleistungen waren nicht einmal Teil des Abkommens.

Beim bisher schrankenfreien Warenhandel knirscht und kracht es daher jetzt an allen Ecken und Enden. Aber auch politisch beginnt das neue Verhältnis alles andere als harmonisch, und das in einer besonders heiklen Frage: Nordirland. Ende vergangener Woche holte die EU-Kommission zu einem heftigen verbalen Schlag aus und beschuldigte London, "zum zweiten Mal internationales Recht brechen zu wollen".

Hintergrund ist, dass London ohne Absprache einseitig die Schonfrist für Kontrollen von Lebensmittellieferungen von Großbritannien nach Nordirland bis Oktober 2021 beschlossen hatte. Eigentlich sollten diese zum 1. April auslaufen. Brüssel will mit Kontrollen in der Irischen See garantiert sehen, dass nur europäischen Vorgaben entsprechende Güter, hier vor allem Lebensmittel, in den Binnenmarkt gelangen. Die historisch fragile Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland sollte nach Willen aller Seiten immer offenbleiben. Johnson hatte den Kontrollen für Lieferungen aus Großbritannien nach Nordirland zugestimmt.

Doch die Kontrollen sorgen für Lieferengpässe in seinem eigenen Binnenmarkt. Britische Zulieferer in Großbritannien wollen an ihre britischen Kunden in Nordirland teilweise nicht mehr verkaufen, weil der Verwaltungsaufwand für nun fällige Dokumente riesig und teuer ist. Außerdem stellen strenge phytosanitäre Prüfungen für Pflanzen und Tiere oder Tierprodukte viele Supermärkte und Produzenten auf eine harte Probe. Transportunternehmer, die bisher mit einer kurzen Warendeklaration auf die Fähre Richtung Belfast gingen, haben jetzt Papierberge abzuarbeiten. Für Kunden in Nordirland wird das Angebot bereits teurer und weniger.

Auftrieb für Extremisten Den Extremisten im fragilen nordirischen Territorium sind solche Spannungen willkommen. Die pro-britischen Unionisten fordern, Johnson müsse das im EU-Vertrag verankerte Nordirland-Protokoll (siehe Stichwort) kündigen. Einige paramilitärische Verbände auf Seiten der Unionisten drohen sogar, ihre Unterstützung für das 1998 getroffene Karfreitagsabkommen zurückzuziehen. Anfang Februar bereits waren am Hafen von Larne, wo Waren aus Großbritannien abgefertigt werden, Graffiti mit Drohbotschaften aufgetaucht. Daraufhin waren Zollkontrolleure aus Sicherheitsgründen kurzzeitig abgezogen worden.

Doch nicht nur politisch zeichnen sich die Konsequenzen des britischen Bruchs mit dem Kontinent ab. Zwar ist es schwierig, genau einzuschätzen, welche Handelshemmnisse durch die Corona-Pandemie entstehen und welche durch den Brexit. Just zum Jahreswechsel waren bei der Passage von Dover nach Calais strenge Kontrollen eingeführt worden, weil sich die EU-Länder gegen die "britische" Virusvariante schützen wollten. Auch das führt seither zu Verzögerungen bei der Abfertigung.

Eindeutig leidet der Handel aber auch an den für die Briten nun gültigen Kontrollen. Bereits zu Jahresbeginn machten schottische Fischer Schlagzeilen, die aus Protest gegen Johnsons Vertrag mit ihren Kühltransportern an der Downing Street vorfuhren. Fisch und Schalentier im Wert von Millionen Euro verrotteten in Lastwagen, weil die Abfertigung viel zu langsam vorankam. Wo sonst eine Ladung frischen Fischs vom schottischen Nordosten bis ins französische Boulogne-sur-Mer zwölf Stunden brauchte, waren es nun drei Tage. Dass just die schottischen Seeleute im Sommer 2016 den Brexit gewählt hatten, hatten sie viereinhalb Jahre später vergessen.

Hohe Extra-Kosten Besonders betroffen von den Brexit-Folgen sind auch Kleinunternehmer und spezialisierte Firmen, deren Firmenmodell auf zügigen Lieferketten beruht und auf der bisher günstigen Logistik im EU-Binnenmarkt. Denn jetzt können hohe Extra-Kosten entstehen: für Zertifikate zur Lebensmittelsicherheit, für zusätzliche Zollpapiere, auch für zusätzliche Zölle, die sich im Kleingedruckten des EU-Vertrags verbergen - etwa, wenn eine Ware nicht den notwendigen Anteil britischer Fertigung hat. Dazu kommt das Ende des Modells "der gemischten Paletten". Kleine Spezialgeschäfte für europäische Produkte von Käse über Brot bis hin zu Textilien müssen statt kleiner Bestellungen nun immer große Mengen abnehmen, weil die Verwaltungskosten sonst zu hoch sind.

Und noch eine andere Konsequenz des Brexit sorgt für Schlagzeilen: das Ende der Personenfreizügigkeit. Ein besonders plastisches Beispiel sind Au-pairs. Großbritannien war für junge Menschen in Europa immer ein Magnet. Doch nun müssen sie einen Verdienst von umgerechnet rund 25.000 Euro nachweisen, bevor sie ein Arbeitsvisum bekommen. Dazu kommen Beiträge zur Gesundheitsversorgung und Visa-Gebühren von fast tausend Euro. Die Zeit, in der britische Familien jungen Leuten ein Zuhause geben konnten und im Gegenzug günstige Kinderbetreuung bekamen, sind vorerst vorbei.

Die Autorin ist Korrespondentin der »Welt« in London.