Inhalt

Aschot Manutscharjan
Kurz REZENSIERT

Der Schriftzug "Dem deutschen Volke" wurde 1916 am Reichstagsgebäude in Berlin angebracht, mitten im Ersten Weltkrieg. 84 Jahre später beschloss der Bundestag ein neues Staatsangehörigkeitsrecht und machte so aus Deutschland auch offiziell ein Einwanderungsland. Doch wovon ist heute die Rede, wenn es um das deutsche Volk oder die Nation geht? Aleida Assmann, Kulturwissenschaftlerin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, nähert sich diesem sensiblen Thema mit Weisheit und Klarheit.

Unaufgeregt erklärt Assmann, warum sich Demokraten mit den Themen "Nation" und "Nationalismus" beschäftigen sollten. Deutschland stehe "an einem historischen Wendepunkt": Durch die Aufnahme von Einwanderern verschiebe sich der Fundus des nationalen Gedächtnisses. Was bedeuten den Einwanderern identitätsbildende historische Ereignisse Deutschlands? Aber nicht nur Migranten, auch die nachwachsende Generation habe in der Breite allenfalls "verschwommene Vorstellungen von der deutschen Geschichte". Die Rechten schlachteten die historischen Mythen für ihre nationalistische Zwecke aus, während sich die Demokraten scheuten, über Nation und Verfassungspatriotismus überhaupt zu diskutieren.

Laut Assmann erreicht die deutsche Gesellschaft eine neue Stufe in der Auseinandersetzung um die nationale Erinnerung. Es finde ein Deutungskampf statt mit dem Ziel, die Legitimität der westlichen Demokratien und der Europäischen Union zu untergraben. Die Autorin kritisiert Modernisierungstheoretiker, die die Nationen ignorierten und über ein postnationales Zeitalter spekulierten.

Welchen Weg soll die "deutsche vereinte Nation" einschlagen? Assmanns empfehlenswertes Buch gibt Orientierung im politischen Verwirrspiel um die Zukunft der deutschen Nation. Gleichzeitig skizziert sie ein mögliches neues nationales Narrativ.

Aus Politik und Zeitgeschichte

© 2021 Deutscher Bundestag