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amri-ausschuss : »Zwölf Gründe«

Bewegende Debatte über den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zum Anschlag 2016 auf dem Breitscheidplatz.

28.06.2021
2023-08-30T12:39:38.7200Z
4 Min

Im sonst so hektischen Debatten-Endspurt zum Ende der Legislaturperiode waren dies in der vergangenen Woche 30 besondere Sekunden des Innehaltens: Der Berliner Abgeordnete Klaus-Dieter Gröhler (CDU) verlas die Namen der zwölf Todesopfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt vom 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz, während Angehörige der Opfer auf der Zuschauertribüne saßen und zuhörten.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte die Tonlage vorgegeben: "Dieser Tagesordnungspunkt ist alles andere als parlamentarische Routine." Der Terrorakt bleibe im Gedächtnis, weil er viele Fragen aufgeworfen habe. "Und die schmerzlichste dieser Fragen lautet: Warum ist es damals nicht gelungen, den Anschlag zu verhindern, obwohl der Täter den Sicherheitsbehörden bekannt war?"

Akribische Aufarbeitung Unter Gröhlers Vorsitz ging der Untersuchungsausschuss "Breitscheidplatz" den Fragen nach: 40 Monate lang, 462 Stunden in 132 Sitzungen mit der Vernehmung von 147 Zeugen, Tausende Akten wurden durchforstet. Der Abschlussbericht (19/30800) umfasst 1.873 Seiten.

Er geriet deshalb so umfangreich, weil er neben dem mit der Mehrheit der Koalition beschlossenen Befund auch zwei Sondervoten der Oppositionsfraktionen umfasst - eins von FDP, Linken und Grünen, eins von der AfD. Einig sind sie sich - wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln - im "traurigen Ergebnis", so Gröhler: "Diese mörderische Tat hätte verhindert werden können." Gröhler fasste das Ergebnis aus Koalitionssicht zusammen: Es habe individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden gegeben. Keine der Pannen sei jeweils besonders gravierend gewesen. Indes: "Alle zusammen waren fatal."

Fritz Felgentreu (SPD) lenkte den Blick auf die Überlastung aller Stellen, die 2015 und 2016 mit der Welle von Geflüchteten konfrontiert waren. Der Bericht verweist auch auf eine Zersplitterung staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeiten bezogen auf Tatverdächtige, die als Gefährder eingestuft wurden. Erwähnt werden Mängel beim Informationsaustausch und der Koordination der Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum.

Lehren zu ziehen: Auch dieser Aufgabe stellte sich der Untersuchungsausschuss. Mit Erfolg, wie Felgentreu befand: Viele Schwächen, die der Täter Anis Amri ausgenutzt habe, seien inzwischen behoben. Der Bericht spricht von Reformen, durch die die föderale Sicherheitsstruktur heute viel robuster aufgestellt sei, um den Herausforderungen durch die Bedrohung durch islamistische Extremisten mit ihrer großen Zahl von Gefährdern zu trotzen.

Islamistisches Netzwerk Im Sondervotum von FDP, Linken und Grünen wird betont, die These von Amri als einem selbst radikalisierten Einzeltäter sei widerlegt. Er sei, so sagte es die Abgeordnete Irene Mihalic (Grüne), eingebunden gewesen in das dschihadistische Netzwerk bis hin zum IS. Dass mögliche Mitwisser und Unterstützer oder gar Mittäter immer noch auf freien Fuß sein könnten, stufte sie als relevante Gefahr ein. Das Bundeskriminalamt (BKA) habe darauf hingearbeitet, die These vom Einzeltäter zu bestätigen - "ganz nach dem Motto, der Täter ist tot, der Fall ist gelöst".

Martina Renner (Die Linke) mahnte: Wer trotz europaweiter Vernetzung der Islamisten an der Fiktion von Amri als Einzeltäter festhalte, werde weitere Anschläge nicht verhindern können. Amri sei islamistisch geschult und logistisch unterstützt worden. Im Bericht der drei Fraktionen wird herausgestellt, dass Amri viele Monate lang unter den Augen verschiedener Sicherheitsbehörden agiert habe. Sie hätten ihn observiert, sein Umfeld infiltriert, seine digitale Kommunikation mitverfolgt. Mindestens ein V-Mann habe regelmäßig vor Amris Gefährlichkeit gewarnt. Dies ließ Benjamin Strasser (FDP) nach einer gesetzlichen Grundlage für den Einsatz von V-Leuten rufen.

Geschwärzte Akten Zugleich gab er sich ungehalten darüber, dass die Ausschussmitglieder nicht alle Steine hätten umdrehen können. Die Bundesregierung habe maximale Transparenz versprochen. Tatsächlich sei es aber zu einer Aufklärung mit angezogener Handbremse - etwa geschwärzten Akten - gekommen.

Stefan Keuter (AfD) ging mit den Vertretern aller anderen Fraktionen ins Gericht. Die hätten sich einem breiten Untersuchungsauftrag verweigert, der laut Antrag seiner Fraktion neben dem Attentat auch die Asyl- und Migrationspolitik, die Grenzöffnung 2015, den Islamismus und den islamischen Terrorismus umfasst hätte.

Und die Bevölkerung? Gröhler sagte, er sei häufiger gefragt worden, warum der Anschlag in einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werde, obwohl dadurch das Leid der Betroffenen doch nicht zu lindern sei. Für ihn gebe es zwölf Gründe, sagte der Berliner Abgeordnete, bevor er die Namen der zwölf Todesopfer verlas. Er sei am Tag nach dem Anschlag selbst auf dem Breitscheidplatz gewesen und habe "noch heute die beklemmende Stille im Ohr". Gröhler fügte mahnend hinzu, er hoffe, dass der Bundestag nie wieder einen solchen Untersuchungsausschuss einsetzen müsse.