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rechT I : Suche nach Gerechtigkeit

Freigesprochene sollen in Verfahren wegen schwerster Verbrechen erneut vor Gericht gestellt werden können

28.06.2021
2023-08-30T12:39:38.7200Z
3 Min

In Verfahren wegen schwerster Verbrechen Freigesprochene sollen erneut vor Gericht gestellt werden können, wenn sich aus nachträglich verfügbaren Beweismitteln die hohe Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ergibt. Der Bundestag nahm in der vergangenen Woche einen Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zur Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten des Verurteilten gemäß Paragraf 362 der Strafprozessordnung (19/30399) an.

Dieses "Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit" war von den Fraktionen erst in der vorletzten Sitzungswoche kurzfristig eingebracht worden, zu Beginn der letzten Sitzungswoche hatte es eine Anhörung gegeben, in der sich die meisten Experten für den Entwurf aussprachen. Für dessen Annahme stimmten in der Nacht zu Freitag (ohne Debatte) neben den Koalitionsfraktionen auch die AfD, die anderen Oppositionsfraktionen enthielten sich.

Wie es in der Vorlage heißt, sind nach bisheriger Rechtslage im Gegensatz zur Wiederaufnahme zu Gunsten des Verurteilten neue Tatsachen und Beweismittel als allgemeiner Wiederaufnahmegrund nicht zugelassen. Dies führe zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass selbst bei schwersten Straftaten wie Mord oder Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein in einem Freispruch geendetes Verfahren selbst dann nicht wiederaufgenommen werden kann, wenn nachträglich Beweismittel einen eindeutigen Nachweis der Täterschaft erlauben. Nach geltendem Recht bleibe es somit, sofern der Freigesprochene kein Geständnis ablege, beim Freispruch.

Technischer Fortschritt Neue, belastende Informationen könne es insbesondere dann geben, so der Entwurf, wenn nach Abschluss eines Verfahrens neue Untersuchungsmethoden möglich geworden seien - wie dies beispielsweise seit den späten 1980er Jahren mit der Analyse von DNA-Material der Fall gewesen sei oder wie dies künftig auch durch die digitale Forensik zu erwarten sei.

Kurz vor dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens hatten FDP, Linke und Grüne heftige Kritik an dem Entwurf geäußert und sahen sich in dieser Auffassung durch die Anhörung bestätigt. Die Vorlage widerspreche dem Grundsatz des Grundgesetzartikels 103 Absatz 3, wonach niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden dürfe.

Aus Sicht der Grünen verletzt die Neuregelung den Kern des Doppelbestrafungsverbots und ist damit ein Dammbruch. Auch mit Blick auf die Rückwirkung bestünden verfassungsrechtliche Bedenken. Unverständlich sei, weshalb die Koalitionsfraktionen trotzdem an dem Entwurf festhielten und ihn in größter Eile noch in der letzten Sitzungswoche der Legislatur beschließen wollten.

Die Linke verwies auf ein kritisches Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zu dem Thema aus dem Jahr 2016. Das Verfahren werde übereilt betrieben, juristische Bedenken würden nicht hinreichend abgewogen, hieß es von der Fraktion im Rechtsausschuss. Zwar gebe es sehr bedrückende Einzelfälle, Pflicht der Abgeordneten sei es jedoch, Recht so zu setzen, dass es über den Einzelfall hinaus eine Richtschnur darstelle, die sich streng in den Grenzen des Grundgesetzes bewege. Auch die FDP wertete den Entwurf als wesentlichen Eingriff in den verfassungsrechtlichen Grundbestand der Rechtssicherheit, damit sei er keine bloße Grenzkorrektur. Der Umstand, dass bereits an anderer Stelle Rechtsfrieden und Rechtssicherheit durchbrochen worden seien, könne keine Begründung für weitere Einschränkungen sein, auch nicht für eng begrenzte Ausnahmefälle.

Abwägung von Prinzipien Abgeordnete von Union und SPD wiesen die Kritik zurück. Aus der CDU hieß es, die Einbringung eines Gesetzentwurfs zum Ende der Legislatur sei kein Indiz für mangelnde Sorgfalt. Die Diskussion über eine Erweiterung des Wiederaufnahme-Paragrafen laufe seit Jahrzehnten. Die Anhörung habe gezeigt, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Grenzkorrekturen im Rahmen des Artikels 103 Absatz 3 des Grundgesetzes zulasse.

Zugleich umfasse das Rechtsstaatsprinzip auch die materielle Gerechtigkeit, sodass die Frage der Zulässigkeit einer Wiederaufnahme eine Abwägung innerhalb des Rechtsstaatsprinzips sei. "Wir waren es den Angehörigen von Mordopfern schuldig, dass die Gerechtigkeit der Rechtskraft eines Urteils vorgeht", erklärte der rechtspolitische Fraktionssprecher Jan-Marco Luczak. Die SPD bezeichnete den Gesetzentwurf als ausgewogene und sinnvolle Neuregelung und verwies darauf, dass im Koalitionsvertrag eine Erweiterung der Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten einer freigesprochenen Person in Bezug auf unverjährbare Straftaten vereinbart worden sei. Der Vorwurf eines übereilten Gesetzgebungsverfahrens gehe fehl. Mit Blick auf den hohen Wert der Rechtssicherheit beschränke sich die Reform auf Ausnahmefälle, nämlich unverjährbare Straftaten. Sie berge daher nicht die Gefahr eines Dammbruchs.

Die AfD bedauerte, dass die Neuregelung an bestimmte Straftatbestände anknüpft. So sei die Ausnahme des Totschlags problematisch, weil bei einem Angeklagten im wiederaufgenommenen Verfahren Jahre nach der Tat ein Mordmerkmal schwierig nachzuweisen sei.