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bauen : Neue Mitte wagen

Gegen »Donut-Dörfer« und hohen Flächenverbrauch gibt es Mittel, Wege und Mut machende Modellbeispiele

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
6 Min

In der Mitte klafft ein Loch, außenherum wartet saftiger Schmalz mit ganz viel Zucker: Donuts stehen bei Süßmäulern hoch im Kurs. Doch während das Fettgebäck manchen Gaumen erfreut, hat seine Form bezogen auf Siedlungen fatale Wirkungen. In der Mitte verödet der Kern mit leerstehenden Gebäuden und Geschäften, an den Rändern sprießen Einfamilienhausgebiete aus dem Boden. "Donut-Dörfer" werden solche Orte genannt, und vielerorts sind sie längst Realität geworden. Ungeachtet politischer Beteuerungen und Appellen verschwinden täglich fast 60 Hektar Fläche unter Asphalt, Stein und Beton - nicht nur für Wohngebäude, aber auch; und vor allem auf dem Land, wo Boden deutlich günstiger als in Ballungsräumen zu haben ist. Ihr Ziel, die derzeitige Flächeninanspruchnahme bis 2020 zu halbieren, hat die Bundesregierung kurzerhand auf 2030 verschoben. Mehr noch, hat sie mit dem neuen Baulandmobilisierungsgesetz zum Ende der Legislaturperiode erneut Möglichkeiten geschaffen, gerade an den Ortsrändern schneller und unbürokratischer neue Baugebiete auszuweisen. Und das, obwohl die Folgen solcher Siedlungsentwicklung fatal in jeder Hinsicht und bekannt sind: Ein Dorf ohne Mitte verliert Treffpunkte, den Zusammenhalt und damit Lebenswert. Der Autoverkehr nimmt zu, weil kaum ein Wohngebiet am Rand ausreichend mit öffentlichem Nahverkehr erschlossen ist oder Kindergarten, Einkaufsmarkt und Sportstätte fußläufig zu erreichen sind. Die ausgefransten Siedlungsränder schließlich lassen nicht selten jegliche Baukultur vermissen; von den ökologischen Folgen der Versiegelung ganz zu schweigen.

Dabei gibt es längst Beispiele, wie Gemeinden ihre Entwicklung in eine andere Richtung steuern können. In Nordrhein-Westfalen hat das Programm "jung kauft alt" Schule gemacht, bei dem Familien zum Kauf leerstehender Bestandshäuser im Ort animiert und bei der Sanierung unterstützt werden. Im Landkreis Barnim nordöstlich von Berlin schlagen die "Häuserretter", eine private Initiative, bei leerstehenden Gebäuden und Hofstellen Alarm. Das nordhessische Wanfried schaffte es in die Schlagzeilen mit dem Coup, gezielt Senioren aus den Niederlanden als Käufer für die sanierungsbedürftigen Fachwerkhäuschen im Zentrum zu gewinnen - auch hier wurde niemand mit der herausfordernden Sanierung auf Basis historischer Baustoffe allein gelassen.

Bauen im Bestand Im Landkreis Schweinfurter Land ist im Lauf der Jahre ein eigenes Internetportal entstanden, auf dem neben aktuellen Baulücken und innerörtlichen Leerständen auch Tipps zum Bauen im Bestand veröffentlicht werden. Welche Baustoffe sind für die Region typisch? Wie haben es andere gemacht? Welche Handwerker helfen mir, und wie komme ich an Fördermittel? Das Portal geht auf eine Strategie des Landkreises zurück. Die einzelnen Gemeinden haben dafür zusammengearbeitet - keine Selbstverständlichkeit, kämpft doch gern jedes Rathaus für sich allein um neue Bewohner und die damit verbundenen Steuereinnahmen.

Der Vorlauf für dieses Konzept war lang. Von 2006 an stand der Landkreis Pilot für den Aufbau einer Flächenmanagementdatenbank. Damit lassen sich potenziell neue Bauflächen erfassen und verwalten, also Baulücken, Brachflächen, Leerstände und alte Bauernhofensembles.

Die Gemeinden lernen dort zudem, welche Daten sie von Eigentümern abfragen müssen, wie sie die dann auswerten und Steckbriefe für die Einzelobjekte erstellen - um die dann zu vermarkten. Ein Handbuch mit dem Titel "Altes schätzen und Neues schaffen" dokumentiert herausragende Gebäude - zum Beispiel, wie aus einem Stall ein Wohnhaus geworden ist, aus einer alten Schule ein Dorfgemeinschaftshaus, oder wie Hofensembles sinnvoll mit Anbauten ergänzt werden, um so Platz für mehrere Familien zu schaffen.

Damit die Bemühungen um die Ortsmitten nicht nachlassen, sitzen in vielen Rathäusern "Innenentwicklungslotsen", die sich federführend und ehrenamtlich um das Thema kümmern. Das können Erste Bürgermeister genauso wie Mitarbeiter in den Bauverwaltungen sein; sie treffen sich regelmäßig im Landratsamt, tauschen sich aus und nehmen an Schulungen teil.

Dass die Orte gar nicht mehr am Rand wachsen, heißt das freilich nicht. Das Schweinfurter Land liegt zwischen Würzburg und Bamberg mit der Stadt Schweinfurt als direkt angrenzendem Wirtschaftsstandort, die steigenden Preise in den Städten treibt auch hier die Familien aufs Land. Schrumpfende Dörfer gibt es fast nicht mehr. Aber die Dörfer wachsen eben mit Augenmaß.

Weniger Kosten Die Bilanz der ersten zehn Jahre Innenentwicklungsstrategie kann sich jedenfalls sehen lassen - auch in finanzieller Hinsicht: Die Interkommunale Allianz Oberes Werntal, ein Verbund von zehn Gemeinden innerhalb des Landkreises, hat in zehn Jahren dank ihrer Innenentwicklungsstrategie 50 Hektar Neubauausweisung verhindert und 270 Leerstände gefüllt, wie eine Evaluierung von 2017 ergab. Die zugleich eingesparten elf bis 14 Kilometer Straße und Leitungsinfrastruktur bewahrte die Gebührenzahler auf 20 Jahre gerechnet vor Kosten von etwa 4,1 Millionen Euro.

Wie wichtig solche finanziellen Aspekte sind, wissen vor allem Kommunen, die weniger auf der Sonnenseite der Entwicklung stehen - und auch in ihnen haben sich mutige Bürgermeister gefunden, die neues wagten. Das nordbayrische Waldsassen an der Grenze zu Tschechien etwa ist seit den 1980er-Jahren ausgeblutet. Mit dem Niedergang der Porzellanindustrie verschwanden die übermächtigen Arbeitgeber in der Region, mit der Grenzöffnung fiel die Zonenrandförderung weg.

Die reizvolle Mittelgebirgslandschaft und ein jahrhundertaltes Kloster reichen als Anker längst nicht aus: Wo sich keine Berufsperspektiven auftun, ziehen die Menschen fort, vor allem die jungen; heute leben mit 6.700 Menschen etwa 15 Prozent weniger in Waldsassen als zu Wendezeiten. "Waldsassen ist in eine tiefe Depression gesunken", sagt Bürgermeister Bernd Sommer über die Zeit um die Jahrtausendwende. Als er 2008 sein Amt antrat, blieb nur eins: Nach vorn schauen. Den Stadtrat wusste der Bürgermeister an seiner Seite. Der Rat fasste einen Grundsatzbeschluss, sich zuerst um die Innen- und dann um die Außenentwicklung zu kümmern: Bevor Baugebiete am Ortsrand erlaubt werden, sollte zunächst geschaut werden, was im Ortskern möglich ist. Denn dort sah es übel aus. Häuser standen leer und verfielen schleichend genauso wie aufgegebene Geschäfte, dazu kamen die Industrieruinen im Stadtgebiet.

Die Stadt erstellte ein Leerstandskataster, um einen Überblick zu erhalten. Um die schwierigsten Immobilien kümmerte man sich selbst. Nach der Begrünung erster Plätze und Straßensanierungen ließen sich Privateigentümer anstecken und fingen an, sich um ihre Häuser zu kümmern. Fenster und Türen erhielten neue Farben, Eingangsbereiche wurden erneuert. Die Stadt besprach mit den Bauherren Gestaltung, Material und Farbwahl, um ein einheitliches Bild zu erreichen. Industrieruinen ließ Sommer abbrechen, auf einem Teil davon einen Skatepark gestalten. "Die Leute haben gesagt, ihr seid verrückt, es ist doch kaum ein Junger mehr da", erzählt der Bürgermeister. "Da habe ich geantwortet: Genau, gerade deswegen."

Überzogene Auflagen Die Beharrlichkeit zahlte sich im Lauf der Jahre aus, in Waldsassen erwachten neuer Stolz und Identitätsbewusstsein. Inzwischen sind auch neue kulturelle Treffpunkte entstanden, zum Beispiel wurde aus einem leerstehenden Scheunenstall ein technisch gut ausgestattetes Kunsthaus als Treffpunkt für die Kreativszene. "Wir wollen alles, was man in der Großstadt findet, in kleinem Rahmen auch hier ermöglichen", sagt Sommer. Der Bürgermeister kämpfte mit der Zeit weniger gegen Widerstände im Ort als mit dem Baurecht, etwa mit dem Brandschutz. Manche Auflagen seien so überzogen, dass eine Nutzung historischer Gebäude gar nicht mehr möglich sei, sagt er. Gleiches gelte für den Denkmalschutz: Oft müsse jeder Holzbalken aufwändig saniert werden, um am Ende doch hinter feuerhemmenden Belägen zu verschwinden. Damit würden Geld verbrannt und Privatleute abgeschreckt.

Dass solche Modellbeispiele nicht längst größere Kreise ziehen, liegt jedoch nicht nur an solcher Bürokratie, zum Teil sehr aufwändigen Antragsverfahren für Fördermittel oder ausbleibenden politischen Leitplanken für Innenentwicklung von höheren politischen Stellen, wie mehrere Bürgermeister anderer Gemeinden unumwunden zugeben: Vielerorts liegt es an den Menschen selbst, dass sich Orte in bestimmte Richtungen entwickeln.

Probleme im Alter Fast zwei Drittel der Deutschen träumen vom Leben im eigenen Einfamilienhaus. Corona hat diesen Wunsch noch verstärkt. Stoßen Politiker darüber Debatten an, werden diese weit mehr emotional denn sachgerecht geführt. Nachverdichten und Flächensparen finden zwar viele gut, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür. Und welcher Bürgermeister wird schon dauerhaft gegen den Willen seiner Wähler handeln?

Unterstützung winkt den Rathauschefs womöglich in naher Zukunft von ganz anderer Seite. Die demografische Entwicklung führt dazu, dass immer mehr Menschen aus ihren Häusern ausziehen müssen - im Alter stören Stufen und schmale Türrahmen, die Bewirtschaftung von Haus und Garten wird zu mühsam. Die Menschen wollen in ihrer angestammten Umgebung bleiben, nur kleiner und zur Miete: Die Nachfrage nach Mehrfamilienhäusern in zentralen Lagen innerhalb von Dörfern steigt, und sie belebt nicht nur Häuser, sondern auch Geschäfte. Nur ein passendes Gebäckstück als Vergleichsname müsste für diese neue, alte Dorfstruktur noch gefunden werden.