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Jugend : Herz auf dem Land

Was bewegt junge Menschen in ländlichen Räumen zum Bleiben, Gehen oder Zurückkehren?

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
6 Min

Die Nachbarskinder spielen. Die Eltern sitzen am Abend zusammen auf einer Mauer und trinken ein Bier. Jeder kennt sich, hilft dem anderen und ist per Du. Erinnerungen, auf die Sina Bellgardt gern zurückblickt, wenn man sie nach ihrer Kindheit fragt. Die 24-Jährige ist in einem 1.000-Seelen-Dorf in Nordrhein-Westfalen (NRW) aufgewachsen. Bellgardt liebt das Landleben. Ihre Heimat hat sie trotzdem verlassen, um Pharmakantin zu werden.

Auch Violett Lau und Pauline Hinz schätzen das Landidyll - die Natur direkt vor der Haustür zu haben, finden die 17-jährigen Freundinnen toll. Und trotzdem: "Für mich steht fest, dass ich irgendwann wegziehen werde. Ich möchte etwas Neues kennenlernen", stellt Violett Lau klar. Sie lebt in der NRW-Kleinstadt Versmold - 22.000 Einwohner verteilt auf mehrere Ortsteile, größtenteils Dorfstruktur. Bald beginnt sie ein Freiwilliges Soziales Jahr. Das, aber auch Freunde und Familie halten sie vorläufig in der ländlichen Heimat, ihrem "safe place", wie sie sagt.

Freundin Pauline Hinz hat andere Pläne. Die Oberstufenschülerin ist in einem Dorf mit 1.600 Einwohnern groß geworden. Sie sagt: "Ich möchte in dieser Gegend bleiben." Momentan sei das für sie das Beste. Trotz zahlreicher Meldungen über die Landflucht der Jugend ist ihre Heimatverbundenheit nicht ungewöhnlich: Bei einer Befragung des Thünen-Instituts für Ländliche Räume in Braunschweig zeigte sich unter den 2.600 Teilnehmenden aus unterschiedlichen Bundesländern, dass die Lebensqualität von den Jugendlichen in ländlichen Regionen als sehr hoch bewertet wurde. Sehr zufrieden sind sie vor allem mit den Beziehungen zu ihren Eltern und Freunden.

Ein Ergebnis, das auch Linda Pudel aus Versmold bestätigen kann. Die 22-Jährige hat ihre Heimat für ein Jahr verlassen - für ihr Studium wollte sie im Ruhrgebiet Großstadtluft schnuppern. Corona machte ihr jedoch zunächst einen Strich durch die Rechnung. Die junge Frau hat ihre Uni-Stadt Bochum verlassen und studiert derzeit von zu Hause aus Gemeindepädagogik. Ob es die nächsten Studienjahre so weiter geht, ist ungewiss, aber was danach folgen soll, hat die 22-Jährige festgelegt: "Ich will auf jeden Fall bleiben." Sie sei tendenziell für Neues offen - "aber mein Herz ist hier auf dem Land", sagt Pudel. Es gebe dort nichts, was sie vermisse, doch viel, das sie nicht missen möchte. Dazu zählen Freunde und Familie. Auf dem Land zählen mehr Menschen zum engen Kreis und bieten Jugendlichen Sicherheit: "Hier lebt man mit den Nachbarn wirklich zusammen", berichtet Pudel.

Ist man auch räumlich entfernter als in der Großstadt, umso stärker ist die gefühlte Nähe: "Ein echtes Gemeinschaftsleben", nennt sie es. Diese Herzlichkeit, die sie in ihrer Heimat erlebe, sei etwas, das sie speziell mit dem Landleben verbinde. Pauline Hinz sieht das genauso: "Als ich nach meinem Geburtstag in unserem Edeka war, hat mir die Verkäuferin gratuliert," sagt Hinz. Dass die Menschen sich kennen und über einander Bescheid wissen, gibt ihr ein gutes Gefühl.

Supermarkt als Anlaufpunkt Außer einem Tante-Emma-Laden gab es in Sina Bellgardts Heimatdorf nichts. "Den sollte es in jedem Dorf geben", sagt die 24-Jährige. Egal wie klein. Wer jetzt an die Bedürfnisse shoppingsüchtiger Teenies denkt, muss seine Vorurteile korrigieren: Laut Thünen-Umfrage schafft es Shopping unter den beliebtesten Freizeitaktivitäten nur auf Platz Sechs - Spitzenreiter sind die Treffen mit Freunden. Im 16. Kinder- und Jugendbericht 2020 der Bundesregierung heißt es, dass Einkaufszentren zwar attraktiv seien, jedoch beispielsweise selten mit den Angeboten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (siehe Text unten) konkurrierten.

Doch ein Problem bleibt, bei dem es nicht um Luxus geht: "Viele Dörfer haben einfach gar nichts zum Einkaufen. Man muss mobil sein", so Bellgardt, die mit 14 Jahren einen Rollerführerschein gemacht hat, damit sie ohne Eltern das Dorf verlassen konnte. Öffentliche Verkehrsmittel wären ihr lieber: "Mehr Busverbindungen und mindestens stündlich - selbst, wenn es länger dauert. Hauptsache, man erreicht andere Orte", wünscht sie sich.

Mit diesem Wunsch spricht sie auch Jan Seidel aus der Seele. "Man braucht auf jeden Fall einen Führerschein", bedauert der 19-Jährige, der in der Schulzeit lange Busfahrten auf sich nehmen musste: Statt 30 Minuten Autofahrt dauerte sein Weg zwei Stunden - inklusive mehrfacher Umstiege. In der Freizeit brauchte er ebenfalls geduldige Eltern oder eine gute Beinmuskulatur. "Die nächste Haltestelle ist drei Kilometer von mir entfernt." Von dort aus fährt einmal pro Stunde ein Bus in einen Nachbarort. Für andere Ziele heißt es erst einmal sieben Kilometer Radfahren bis ins Ortszentrum, um von dort aus weitere Busse zu erreichen. Durch den Führerschein spart er jetzt Zeit - ein schwacher Trost für den klimabewussten Abiturienten. "Wenn es irgendwie geht, nehme ich das Fahrrad", sagt Seidel. Für seinen Weg zum Ausbildungsplatz muss er 30 Kilometer mit dem Auto pendeln - obwohl seit Jahren Gespräche über den Ausbau des Bahnnetzes laufen.

Angewiesen auf andere Es sind lokale Hindernisse, die sich bundesweit spiegeln: Für den Kinder- und Jugendbericht haben junge Menschen geschildert, dass sie sich neue Mobilitätskonzepte wünschen - für den Klimaschutz und, um sich selbstständig entfalten zu können. Dies sei ein Handlungsfeld für die Politik, meinen die Jugendlichen. Ein Problem, das laut Thünen-Institut schon seit 2012 auffällt: Die öffentlichen Verkehrsmittel reichen nicht aus, um den Freizeitansprüchen gerecht zu werden.

Das schlechte Internet ist ein weiteres Problem. Obwohl der Ausbau voranschreitet, bleiben Einschränkungen. Die Lockdowns machten es deutlich: Jan Seidel musste etwa regelmäßig Freunde besuchen, um Hausaufgaben an Lehrer mailen zu können. Der Kinder- und Jugendbericht bestätigt, dass die Pandemie die regional ungleichen Chancen, an digitalen Bildungsformaten teilzunehmen, aufdeckt. Nutzer außerhalb der Städte verfügen in der Regel über schlechtere Netze. Damit Regionen nicht abgehängt bleiben, sei ein flächendeckender Ausbau dringend erforderlich, heißt es. Seidel erkennt aber nicht nur beim Lernen Nachteile: Eine Freundin von ihm habe zwar gutes WLAN, aber rundherum kein mobiles Netz.

Trotz digitaler Hindernisse - die analogen Netzwerke funktionieren: Linda Pudel und Jan Seidel finden beim "Christlichen Verein Junger Menschen" mehr als nur Anschluss. Vor allem während der Pandemie erfuhr Seidel dort Halt: "Diesen Grundbaustein in meinem Leben möchte ich noch nicht loslassen", sagt er. Ob diese Entscheidung für immer sei, wisse er nicht. Einen Ausbildungsplatz, für den er hätte umziehen müssen, hat er abgelehnt. Auch Linda Pudel ist ihr Engagement weiterhin wichtig - der Studienbeginn in Bochum ändert daran nichts.

Vorteile auf der Hand Eine Bertelsmann-Studie von 2015 kommt zu dem Schluss, dass es Jugendlichen nicht an der Bereitschaft zur ehrenamtlichen Arbeit mangele - sie bräuchten jedoch konkrete Visionen sowie materielle und ideelle Unterstützung. Schule, Sport und Kirche bildeten die wichtigsten Bereiche, in denen auch die jungen Versmolder viele Optionen sehen, aber auch die freiwillige Feuerwehr oder die Landjugend. "Wenn jemand etwas unternehmen möchte, findet er etwas", resümiert Seidel.

Über den größten Vorteil im Vergleich zum Stadtleben müssen Landmenschen nicht lange nachdenken: Für Sina Bellgardt sind es die nahgelegene Natur und die damit verbundene Ruhe. "Klar, es ist schön, eine Stadt in der Nähe zu haben", räumt sie ein. Aber nach einem Tag dort freue sie sich umso mehr, wenn sie den Lärm hinter sich lassen kann. Gleichzeitig gebe es noch weitere Vorteile am Landkind-Sein: "Wir dürfen die Musik laut aufdrehen", sagt Pauline Hinz.

Trotz aller Einschränkungen zeigt sich also, dass junge Menschen ihrer ländlichen Heimat viel abgewinnen können - ganz gleich, ob sie letztlich dort bleiben oder weiterziehen wollen.