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Politische Rhetorik : Zwischen Kalkül und Inspiration

Anders als die antiken Redner haben Obama, Churchill oder Luther King bei ihren denkwürdigen Auftritten (fast) nichts dem Zufall überlassen

30.08.2021
2023-08-30T12:39:41.7200Z
4 Min

Die Rhetorik ist ein Produkt der antiken Gesellschaften. Ihren ersten Höhepunkt hatte sie in der athenischen Demokratie des 5. Jahrhunderts vor Christus. Rhetorik und Demokratie waren im athenischen Gemeinwesen, der Polis, aufs Engste miteinander verbunden. Die Bürger Athens selbst bestimmten in öffentlicher Verhandlung - also durch Rede und Gegenrede - über ihre politische Zukunft. Der Bürger war in dieser direkten Demokratie immer auch Redner. Allerdings war die Möglichkeit, als Redner in Erscheinung treten zu können, auf die männlichen Vollbürger Athens beschränkt. Frauen und Sklaven waren ausgeschlossen. Damit hatten nur etwa 20 bis 25 Prozent der Einwohner die Möglichkeit, sich als Bürger politisch zu artikulieren.

Rhetorik war im Ursprung männlich und elitär. Der Zugang zur Rolle des Redners schloss zahlenmäßig gewichtige Gruppen aus, und daran sollte sich bis ins 19. Jahrhundert hinein wenig ändern. Frauen tauchen in der Rhetorikgeschichte allenfalls am Rand auf, Ähnliches gilt für andere soziale Gruppen jenseits herrschender Eliten, also etwa Sklaven, Arbeiter oder auch Schwarze. Erst die seit dem 19. Jahrhundert entstehenden sozialen Bewegungen - die Arbeiterbewegung, die Frauenbewegung oder das amerikanische Civil Rights Movement des 20. Jahrhunderts - veränderten diese Mechanismen der Exklusion.

Im Deutschen Reich lässt sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten, wie sich Frauen langsam die öffentliche Rede erobern - zuerst im Kontext von Frauenvereinen, schließlich im Rahmen von Parteien und spät erst als gewählte Mitglieder des Parlaments. Clara Zetkin, Bertha von Suttner und vor allen anderen Rosa Luxemburg sind Namen von bekannten Rednerinnen einer Zeit, in der Frauen von der Teilhabe an den politischen Institutionen des Staates weitgehend ausgeschlossen waren. Erst Marie Juchacz schließlich hielt als Abgeordnete der SPD in der Weimarer Nationalversammlung am 19. Februar 1919 die erste Parlamentsrede einer Frau.

Auch in einer zweiten Hinsicht ist das Ideal des Redners, wie es sich in der klassischen Antike herausgebildet hat, zu relativieren. Die Meisterredner Demosthenes und Cicero schrieben ihre Reden alleine, ohne politische Berater, Redenschreiberteams und Spin Doctors. Das hat sich im 20. Jahrhundert radikal verändert. Das Modell des heroischen Redners, der ein genialischer Autor ist, gilt selbst für Figuren wie den britischen Premierminister Winston Churchill nicht, dem 1953 immerhin der Nobelpreis für Literatur zuerkannt worden war. Churchill verfasste zwar seine Reden weitgehend selbst, ließ sie aber vor seinem Auftritt in der Regierungsbürokratie zirkulieren, holte sich also das, was man heute als "Feedback" bezeichnet.

Der US-Regierungsapparat war im 20. Jahrhundert Vorreiter dieser Professionalisierung. Warren Harding, der 1920 gewählte 29. US-Präsident war der erste, der einen Redenschreiber in Vollzeit anstellte. Präsident Franklin D. Roosevelt beschäftigte wenige Jahre danach gleich mehrere solcher "Ghosts" - Geister, die öffentlich nie in Erscheinung treten, ja deren Mitwirkung beim Verfasser der Reden systematisch verschleiert wurde. Unter Roosevelt war das Redenschreiben ein kollaborativer Akt, der oft vor Ort im Oval Office des Weißen Hauses stattfand, nach Ende der offiziellen Bürozeiten und in einer informellen Atmosphäre: Roosevelt mixte die Getränke, während seine Redenschreiber die Texte schrieben. In der Folgezeit entkoppelt sich der Redenschreiber von der persönlichen Bekanntschaft mit dem Präsidenten. Redenschreiben wird zu einer reinen Auftragsarbeit und zu einer Profession.

Redenschreiber arbeiten im Hintergrund, nur von wenigen kennen wir den Namen. Am besten bekannt ist das Team von Barack Obama, der mit Jon Favreau, Jon Lovett und Ben Rhodes eine Gruppe politikbegeisterter Wilder in ihren Dreißigern versammelte, die fast zu Redenschreiber-Stars geworden sind. Die Erinnerungen von Daxid Axelrod, Obamas Wahlkampfmanager, zeigen, wie das Redenschreiben heute zu einer hochgradig arbeitsteiligen und schnell auf die rasch wechselnden politischen Lagen reagierenden Geschäft geworden ist, in dem das Internet, Geräte wie Smartphones und Laptops den schnellen Austausch von Textfassungen erst möglich machen. Als im Zuge des Wahlkampfes um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten 2008 kontroverse Äußerungen von Obamas Pastor Jeremiah Wright publik gemacht wurden, entschied sich Obama überraschend dazu, eine Rede zum Thema Rassismus zu halten. Wenige Tage Vorbereitung blieben dem Team. Die Rede wurde von Jon Favreau mitten in der Wahlkampftour in einem Café der amerikanischen Starbucks-Kette konzipiert. Obama arbeitete den Text dann spätnachts aus und sendete ihn um drei Uhr morgens an Axelrod, der sie Minuten später auf seinem Mobiltelefon liest. Von der ersten Idee bis zu Obamas Auftritt im National Constitution Center in Philadelphia am 18. März 2008 vergingen nur vier Tage. Die Rede rettete Obamas Kandidatur 2008.

Die wohl berühmteste Rede der Weltgeschichte stammt von dem Bürgerrechtler Martin Luther King, Jr. und wurde am 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial vor einer Menge von Hundertausenden von Zuhörern und Zuhörerinnen gehalten. Sie ist unter ihrem refrainartigen Motto bekannt geworden: "I have a dream." Keine Sammlung wichtiger Reden kommt heute ohne Abdruck dieser Rede aus.

King hatte die Rede, die den Abschluss einer großen Vortragsreise bildete, sorgfältig präpariert. Über Wochen hatte er an dem Text gearbeitet und das Manuskript immer wieder Freunden zur Lektüre gegeben, deren Hinweise er in den Text einbaute. Noch am 27. konferierte er mit engen Vertrauten in der Lobby seines Washingtoner Hotels. Bis morgens um vier Uhr arbeitete er an der Rede. Der Teil aber, der sie berühmt gemacht hat, der Schlussteil mit der mehrfach wiederholten Phrase "I have a dream", stand nicht im Manuskript. King extemporierte die Passage, während er sprach. Die Sängern Mahalia Jackson hatte King wohl zugerufen, er solle dem Publikum von seinem "dream", dem Traum erzählen. Tatsächlich hatte King diese Formulierung schon früher verwendet; sie greift zudem die typischen rhythmischen Strukturen von Predigten auf, mit denen er als Pastor vertraut war. Erst die Verabschiedung des ausgearbeiteten Redetextes ermöglichte es King, in eine freie und dialogische Kommunikation mit dem Publikum einzutreten. Sie mündet in einer geradezu spirituellen Einheit von Sprecher und Auditorium. Manchmal spielen nicht Strategie und Kalkül die zentrale Rolle, sondern Intuition und Inspiration, denen der Redner sich überlässt.

Der Autor ist Professor für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen.