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»Total spannend«

30.08.2021
2023-08-30T12:39:41.7200Z
7 Min

Frau Klosa-Kückelhaus, Sie sind eine Wortschatzforscherin - sagt man das so?

Das kann man so sagen. Wie alle Wörterbuchmenschen oder Lexikographinnen und Lexikographen forschen wir am Wortschatz und dokumentieren unsere Erkenntnisse in Wörterbüchern. Ich bin eine Wortsammlerin.

Sammeln Sie bestimmte Wörter?

Es kommt darauf an, an welchem Wörterbuch man arbeitet. Manche beschäftigen sich mit ganz altem Wortschatz. Ich persönlich arbeite an einem Projekt "Neuer Wortschatz", bei dem wir Neologismen suchen - also neue Wörter, die in den vergangenen Jahren entstanden oder ins Deutsche entlehnt worden sind.

Werden Sie dabei häufig fündig?

Ja. Es gibt keinen Tag, an dem mir oder den Kolleginnen und Kollegen nicht etwas auffällt, von dem wir zumindest zunächst denken, dass wir es noch nicht gehört oder gelesen haben und es neu ist. Natürlich täuschen wir uns dabei auch manchmal.

Was haben Sie zuletzt gefunden?

Immer noch neuen Corona-Wortschatz. Zum Beispiel den "Impfschwänzer". Oder die "Test-Party", an der nur teilnehmen darf, wer vorher getestet wurde. "Walk-in-Impfung" finde ich auch sehr schön - da kann man einfach ins Impfzentrum gehen, ohne Anmeldung.

Zu Corona gibt es viele neue Wörter?

Genau. 1.600 haben wir schon online gestellt, weitere 800 wollen wir noch prüfen.

Wechseln sich bei den Neuschöpfungen Boom-Zeiten und Flauten ab?

Eine richtige Flaute haben wir nie: Es gibt einen kontinuierlichen Ausbau des Wortschatzes - das war immer so. Bei Corona war die hohe Dynamik in der Kürze der Zeit auffällig. In Hochphasen sind uns jede Woche beim Blick in die Zeitung zwischen 20 und 30 neue Wörter aufgefallen.

Haben Sie das schon einmal erlebt?

Ich so nicht, aber Kollegen in der Wendezeit. Damals entstand auch Etliches an neuem Wortschatz in einem relativ kurzem Zeitraum: "neue Bundesländer" und "alte Bundesländer" zum Beispiel oder "Wendehals". Wir haben auch relativ viel Wortschatz rund um den Flüchtlings- und Migrationsdiskurs aufgenommen. "Asylherkunftsland" zum Beispiel oder "Ausreisegewahrsam": Das sind Worte, die vom Gesetzgeber definiert werden. Andere Beispiele sind die "Willkommenspolitik", der "Migrationspakt" oder die "Flüchtlingslotsen".

Politik prägt auch den Wortschatz?

Auch. In diesem Fall ist das ein Wortschatz, den die Politik stark prägt. Ein Bundestagsabgeordneter hat mir einmal erzählt, dass die sich all diese Wörter ganz genau überlegen. Das heißt nicht zufällig "Mütterrente" oder "Bürgerenergiegeld" - da ist ja klar, warum darin das Wort "Bürger" ist.

Gibt es typische Politiker-Sprache?

Ich glaube, bei manchen Politikern kann typisch sein, dass sie bestimmte Wörter immer wieder verwenden. Ein gutes Beispiel ist der frühere US-Präsident Trump, bei dem vielen Menschen Wörter einfallen, die sie mit dessen speziellen Art zu sprechen in Verbindung bringen - allen voran "America first". Es gibt Politiker, die immer wieder bestimmte Begriffe platzieren bei allem, was sie sagen.

Nicht nur Politiker prägen neue Begriffe. Wer noch?

Eigentlich alle Sprachteilhabenden. Alle, die des Deutschen mächtig sind, können jederzeit neue Wörter bilden - durch Zusammensetzungen, durch Ableitungen. Das ist schon bei Kindern zu beobachten.

Ist die deutsche Sprache für Neuschöpfungen besonders geeignet?

Grundsätzlich kann der Wortschatz in jeder Sprache ausgebaut werden. Sie würde ja sonst den modernen Bedingungen nicht gerecht. Aber die Mechanismen dazu sind von Sprache zu Sprache verschieden. Das Deutsche hat eine sehr leichte Möglichkeit mit den Zusammensetzungen. Es gilt allgemein als eine Sprache, die unglaublich leicht neuen Wortschatz bilden kann, aber grundsätzlich passen sich alle lebenden Sprachen an die neuen Gegebenheiten an.

Diese Zusammensetzungen, Bandwurmwörter, sind typisch für uns?

Auch. Weil wir nicht nur aus einfachen Bestandteilen Zusammensetzungen bilden können, etwa aus "Kind" und "Geld" das Wort "Kindergeld", sondern das immer komplexer werden kann: Man kann einen "Kindergeldantrag" stellen und eine "Kindergeldantragsbewilligung" bekommen und so weiter. Aber bei mehr als vier Bestandteilen zögert man doch, sie zu bilden oder zu verwenden.

Die Kanzlerin warnte letztes Jahr mit Blick auf Corona vor "Öffnungsdiskussionsorgien". Das ist ein typisches Wort?

Für die deutsche Sprache ja, weil es den Zusammensetzungsregeln entspricht. Untypisch fand ich es für Frau Merkel, weil beim Wort "Orgien" Bilder mitschwingen, die man nicht so leicht mit ihrer sonst eher sehr sachbezogenen Ausdrucksweise zusammen bekommt.

Wie finden Sie überhaupt die neuen Wörter?

Vor allem durch Medienbeobachtung: Zeitung lesen, Nachrichten hören. Auch haben Kolleginnen und Kollegen bei uns korpuslinguistische Werkzeuge entwickelt, mit denen Texte ausgewertet werden. Da finden wir Vorschläge, was neu sein könnte.

Das geht per Computer?

Genau. Diese Texte werden mit statistischen Mitteln durchforstet, und dann kann man sehen, wie sich zum Beispiel die Gebrauchshäufigkeit eines Wortes verändert hat. Bei "Öffnungsdiskussionsorgie" etwa sieht man, dass das Wort im April 2020 auf einmal da war und sehr häufig vorkam. Danach nahm die Gebrauchshäufigkeit ab, weil in den Medien nicht mehr über dieses Wort berichtet wurde. Aber es ist nicht gestorben, sondern kommt immer wieder vor und hat sich von dem ursprünglichen Kontext losgelöst.

Sie nutzen auch Protokolle von Parlamentssitzungen. Ist das ergiebig?

Die sind auf jeden Fall interessant. Zum einen kommt dort ein parlamentarischer Wortschatz vor, der sich in Zeitungen nicht so häufig findet, wie etwa "Beschlussvorlage". Sehr spannend sind solche Debatten, wenn man sich für politisches Sprechen interessiert. Eine Kollegin hat etwa untersucht, wie sich die Sprache im baden-württembergischen Landtag seit dem Einzug der AfD verändert hat: Werden da bestimmte Wörter auf einmal häufiger oder seltener verwendet? Wie ist der Demokratiebegriff, wenn er von verschiedenen Fraktionen verwendet wird? Total spannend.

Wo suchen Sie sonst noch?

Auch in den sozialen Medien, dort entsteht ebenfalls neuer Wortschatz. Gerade Twitter ist ja ein Medium, bei dem man sich sehr kurz fassen muss; weshalb dort häufig schöne neue Komposita gebildet werden, um das, was man sagen will, irgendwie prägnant zusammenzufassen.

Nicht jede Neuschöpfung setzt sich durch. Haben Sie dafür auch ein Beispiel, zum Beispiel aus dem Corona-Wortschatz?

Im Englischen gibt es das Wort "Vaccinistas". Das hat mit "Vaccination" zu tun, dem englischen Wort für Impfungen, und bezeichnet Personen, die in den sozialen Medien ein Foto von ihrer Impfung posten. Das kam auch in deutschen Medien vor, doch dabei wurde nur zitiert, dass es das Wort im Englischen gibt. Im Deutschen hat es sich ebenso wenig durchgesetzt wie etwa "Postimpfbild" im gleichen Kontext.

Dabei gibt es viele neue Anglizismen.

Im Vergleich zu neuen Wörtern, die aus deutschem Wortmaterial entstehen, sind das nicht so viele, und wir entlehnen auch aus anderen Sprachen Begriffe, denken Sie zum Beispiel an "Kebab". Es zeigt, dass die Sprache lebendig ist, und meist gelingt es uns ganz unproblematisch, die entlehnten Wörter zu integrieren. Manche Anglizismen sind aber unheimlich frequent: Corona-Wörter wie "Homeoffice" oder "Lockdown" kommen wahnsinnig häufig vor.

Wir nutzen sogar Wörter wie "Handy", die englisch klingen, aber kein Engländer benutzt - die sagen "Mobile". Ist "Handy" dann ein deutsches Wort?

Ja, eindeutig. Das ist ein Pseudoanglizismus: Ein schönes Beispiel dafür ist das Gegenstück zum "shitstorm", nämlich "candy-storm". Das gibt es nur im Deutschen und wurde im Deutschen gebildet, übrigens von dem Politiker Volker Beck.

Der frühere Grünen-Abgeordnete?

Ja. Der hat den Begriff wohl als erster verwendet - für den vielen Zuspruch, den seine damalige Parteivorsitzende Claudia Roth über Twitter bekam, als sie nicht zur Grünen-Spitzenkandidatin erkoren wurde.

In den 1980ern leitete Beck das "Schwulenreferat" der Grünen-Fraktion, ein damals heftig umstrittener Begriff: Das Wort "schwul" war mehr negativ besetzt, nicht wie heute. Verfolgen sie solche Konnotationswandel auch?

Ja, im Wörterbuch müssen wir solche Veränderungen nachzeichnen. Bei "schwul" hat sich die Verwendung auch dadurch quasi neutralisiert, dass es eine Eigenbezeichnung ist. Dass es heute weniger negativ konnotiert ist, liegt auch daran, dass die Menschen, die sich selbst so nennen, das Wort neutral oder mit Stolz verwenden.

Wie ist es mit Begriffen, die immer wieder durch neue ersetzt werden oder werden sollen, etwa weil man sie als diskriminierend empfindet? Zum Beispiel, wenn es um Hautfarben geht oder jemand unfreiwillig seine Heimat verlässt.

Es gibt an unserem Institut ein Wörterbuch mit Einträgen zu "Flüchtling" oder "Migrant", in dem ziemlich genau erklärt wird, wann man was verwendet oder seit wann die Sprachgemeinschaft die Verwendung wie beurteilt. Manchmal versuchen zum Beispiel der Gesetzgeber oder gesellschaftliche Gruppen, den Sprachgebrauch zu steuern. Ein solcher Versuch der Einflussnahme funktioniert aber nicht unbedingt. Das kann scheitern, manchmal aber auch gelingen, etwa weil sich gesellschaftlich etwas ändert und dann sprachlich nachvollzogen wird.

Haben Sie ein aktuelles Beispiel?

Total schnell funktioniert hat das - für mich sehr überraschend -, als die Weltgesundheitsorganisation Ende Mai sagte, es sei nicht gut, von "China-Virus" oder "indischer Mutation" zu sprechen, und statt dessen Bezeichnungen mit griechischen Buchstaben vorgeschlagen hat wie "Delta-Variante". Das hat sich unglaublich schnell durchgesetzt, nicht nur im Deutschen. Die vorherigen, von vielen als diskriminierend empfundenen Begriffe findet man in den Medien praktisch nicht mehr.

Welche Begriffe aus politischen Diskussionen der letzten Jahre bleiben?

Außerhalb der Flüchtlingsdebatte, die diese Jahre sehr stark geprägt hat, haben wir zum Beispiel immer wieder neue Bezeichnungen für Koalitionen nach den verschiedenen Farben: "Jamaika" oder "Kenia" -, dieses Muster wird sicherlich bleiben. Auch das Wort "GroKo" wird wohl erhalten bleiben. Spannend werden zudem neue Formen versuchter Einflussnahme über das Internet, indem man Online-Petitionen etwa beim Bundestag unterstützt, da gibt es "Klicktivismus" statt "Aktivismus". Ich denke mir, dass wir so etwas weiter sehen, dass solche Formate und die sozialen Medien noch mehr Raum bekommen.

Das Gespräch führte Helmut Stoltenberg.