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»Ich darf nicht durch die Hintertür kommentieren«

30.08.2021
2023-08-30T12:39:41.7200Z
3 Min

Gerade diskutiert die Gehörlosen-Community, welche Gebärde für die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock die passende ist. Bisher wurde Baerbocks Vorname übersetzt. Doch als Kanzlerkandidatin schien das nicht mehr adäquat. Soll jetzt ihr Nachname - Bär und Bock - dargestellt oder eher Bezug auf ihre oftmals markanten Ohrringe genommen werden? "Bekannte Personen wie Politiker haben eigene Gebärdenamen oder Gebärdenzeichen", erklärt die Gebärdensprachdolmetscherin Dina Zander-Tabbert. Dabei werde etwas Typisches für die Person gewählt. "Viele Begriffe entstehen durch die Praxis, durch das Benutzen der Gebärde." So ist die Gebärde für US-Präsident Joe Biden eine Anspielung auf seine oft benutzte Flieger-Sonnenbrille. Für Vizepräsidentin Kamala Harris wird mit drei Fingern eine Lotusblüte angedeutet, wie der Vorname übersetzt heißt. Bei SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz wird auf sein kurzes Haar und bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf ihre Vorliebe für Blusen Bezug genommen.

Und immer wieder kommt die Frage: Welche Gebärde hat denn die Bundeskanzlerin? Zander-Tabbert erklärt, dass sie für Angela Merkel eine Gebärde für das Wort "merken" benutze. Wichtig sei immer, neutrale Gebärden zu benutzen, betont die 52-Jährige. "Als Dolmetscherin darf ich auch nicht durch die Hintertür kommentieren."

Zander-Tabbert, deren Eltern gehörlos waren, arbeitet seit fast 30 Jahren als Gebärdensprachdolmetscherin, davon mehr als 15 Jahre für den Bundestag. Oft dolmetscht sie in Ausschüssen, beispielsweise wenn Vertreter der Gehörlosenverbände als Sachverständige für das Barrierefreiheitsgesetz geladen sind. Ganz selbstverständlich hat sie die Namen der Abgeordneten und auch alle parlamentarischen Fachbegriffe parat. "Genauso wie im Lautsprachendolmetschen auch, ist man als Gebärdensprachdolmetscherin verpflichtet, sich auf zwei Ebenen zu nähern - was ist die Bedeutung des Wortes und welche Zielgruppe gibt es", erklärt sie. Einem Fachpublikum sind parlamentarische Begriffe wie beispielsweise Hammelsprung oder Nachtragshaushalt geläufig, ansonsten werden sie umschrieben oder erklärt.

Auf die Entstehung der Gebärden haben die Dolmetscher zwar keinen Einfluss. Sie müssen aber durch engen Kontakt mit der Gehörlosen-Gemeinschaft am Ball bleiben und die Entwicklung in der Gebärdensprache widerspiegeln. Denn es gibt keinen Duden, vieles kann sich schnell ändern. Obwohl die Gebärdensprache seit Jahrzehnten eingesetzt wird, wurde sie in Deutschland erst durch das Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes 2002 als eigene Sprache anerkannt.

Zander-Tabbert, die in Berlin aufwuchs, hat zunächst Sonderschulpädagogik in Hamburg studiert, sich dann als Gebärdensprachdolmetscherin weiterqualifiziert und auf Politik spezialisiert. Übersetzt wird mit einem Fingeralphabet sowie Handzeichen aus Mimik und Körperhaltung. Dabei muss Zander-Tabbert immer simultan übersetzen, denn wie in der Lautsprache auch darf kein Satz verkürzt werden. Als Gebärdensprachdolmetscherin wird sie hauptsächlich vom Bundestag und Bundesministerien angefordert. In Intervallen von etwa zehn Minuten wechselt sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen ab. "Ich finde es spannend, dass kein Tag dem anderen gleicht, ich immer neue Menschen treffe und neue Inhalte habe", sagt sie zu ihrer Motivation. "Außerdem ist mir wichtig, dass so Barrierefreiheit hergestellt wird."

Zur Professionalität gehört neben Zurückhaltung beim Auftreten auch eine entsprechende Kleidung. Sie arbeite immer in dunkler Kleidung mit langen Ärmeln, trage weder Schmuck noch eine Uhr, sagt Zander-Tabbert. "Sogar meinen Ehering nehme ich ab." Denn nichts soll ablenken vom Dolmetschen. "Das Wichtigste ist ja, ich soll verstanden werden."

Dabei erklärt sie auch, wie die Corona-Pandemie der Gebärdensprache einen Schub verpasst hat. Erst auf Druck der Gehörlosen-Community wurden beispielsweise die live übertragenen Pressekonferenzen mit Lothar Wieler, dem Chef des Robert Koch-Instituts, verdolmetscht. Obwohl es auch im europäischen Vergleich gedauert hat, ist es inzwischen selbstverständlich, dass bei Pressekonferenzen von Bundes- oder Landesministerien oder Konferenzen Gebärdensprachdolmetscher zum Einsatz kommen. Der Bedarf an qualifizierten Dolmetschern ist damit enorm gewachsen.

Neue Herausforderung Zander-Tabbert studiert derzeit in einem Masterstudiengang International Sign, die internationale Gebärdensprache. Diese Kommunikationsform entwickelt sich gerade und sorgt dafür, dass taube Menschen aus unterschiedlichen Ländern sich schnell im politischen oder kulturellen Bereich verständigen können. Aktuell wird sie vor allem bei internationalen Konferenzen eingesetzt. Nach ihrem Abschluss kann sich Zander-Tabbert gut vorstellen, im Europaparlament zu dolmetschen.

Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.