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Serbien : Der lange Schatten des Krieges

Der Nato-Einsatz im Kosovo im Jahr 1999 ist völkerrechtlich umstritten, bis heute prägt er die Politik des Balkan-Staates.

08.08.2022
2024-02-26T10:35:26.3600Z
3 Min

Die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ausgerufene Zeitenwende hat eine Vorläuferin: Vom 24. März bis zum 10. Juni 1999 bombardierte die Nato die Bundesrepublik Jugoslawien, die aus den heute selbstständigen Staaten Serbien und Montenegro bestand. Die damalige Zeitenwende: Es war der erste Kampfeinsatz der Nato und der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach 1945. Völkerrechtlich ist er bis heute umstritten, denn die Luftangriffe erfolgten ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates. Es handelte sich auch nicht um einen "Bündnisfall". Begründet wurde die 78-tägige Intervention vielmehr mit einer humanitären Katastrophe.

Foto: picture alliance / dpa | Thomas Brey

„Kosovo ist Serbien – Krim ist Russland“, steht auf einer Hauswand in dem serbisch dominierten Norden der geteilten Stadt Mitrovica im Kosovo.

Joschka Fischer: "Nie wieder Völkermord"

Serbisches Militär und Paramilitär hatten seit Monaten Albaner im Kosovo attackiert, um die Sezessionsbestrebung dieser Region zu stoppen. Die Zivilbevölkerung, vor allem Kosovo-Albaner, wurde Opfer systematischer Überfälle, Vertreibungen und Massenmorde. Zwar habe sich Deutschland der Maxime "nie wieder Krieg" verschrieben, aber es dürfe auch "nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord" geben, rechtfertigte der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) in seiner Rede auf dem Parteitag in Bielefeld den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr.

Die Resultate: Serbien kapitulierte. Das fast nur noch von Albanern bewohnte Kosovo wurde 2008 unabhängig. Über die Opferzahlen herrscht Uneinigkeit. Serbien spricht von 1.031 getöteten Soldaten und Polizisten sowie rund 2.500 Zivilisten. Internationale Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch beziffern die Zahl der toten Zivilisten dagegen auf rund 500. Zentrale serbische Infrastruktur wie Brücken, Telekommunikationseinrichtungen, der Belgrader Fernsehturm, Fabriken und Stromnetze lagen in Schutt und Asche.

Kosovo von über 100 Staaten völkerrechtlich anerkannt

Im Westen wurde der Nato-Angriff als Erfolg gewertet, trotz der völkerrechtlichen Bedenken. Weit über 100 Staaten haben inzwischen das Kosovo völkerrechtlich anerkannt. Nicht aber die EU-Länder Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und die Republik Zypern, die keinen Präzedenzfall für offene Minderheitenprobleme im eigenen Land schaffen wollen. Russland und China unterstützen Serbiens Wunsch, seine frühere Provinz zurückzubekommen.

Der kleine Adriastaat Montenegro, bis 2006 Juniorpartner Serbiens in der Bundesrepublik Jugoslawien, steuert heute als Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat klar auf Westkurs. In Serbien, dem zentralen Land des westlichen Balkans, sieht die Lage ganz anders aus. Hier bestimmt der Nato-Angriff noch immer die Politik: Zwar ist Belgrad unter Führung des autokratisch regierenden Präsidenten Aleksandar Vucic auch EU-Kandidat, doch pflegt es ebenso enge freundschaftliche Verbindungen zu Russland. Zuletzt hatte das EU-Parlament verlangt, Serbien müsse Sanktionen gegen Russland verhängen und am Ende auch die Selbstständigkeit des Kosovos anerkennen. Nie und nimmer, antwortete Vucic postwendend, "wir werden noch nicht einmal darüber nachdenken".

"Nicht mit dem Angriffskrieg Russlands zu vergleichen"

Die russische Annexion der Krim 2014 wurde von Serbien begrüßt. So wie sich Moskau die Krim zurückgeholt habe, wolle man auch das Kosovo wiederhaben, hieß es von Politikern und Medien unisono. "Die Krim ist Kosovo", wurde im ganzen Land an die Hauswände gepinselt. Russlands Angriff auf die Ukraine wurde eins zu eins gleichgesetzt mit den Nato-Bomben mehr als zwei Jahrzehnte zuvor. "Wir werden niemals vergessen, dass die Bombardierung eine Aggression auf ein souveränes Land war", sagte Vucic Ende März zum 23. Jahrestag: "Was für eine Tapferkeit und ein Heldentum, wenn 19 Nato-Staaten ein einziges Land angreifen", kritisierte das Staatsoberhaupt ironisch.

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Diesen Vergleich will Serbiens Nachbar und Dauerrivale in der Region, das jüngste EU-Mitglied Kroatien, nicht gelten lassen. Die Opferrolle sei nur ein populistisches Narrativ, schrieb der Journalist Gordan Duhacek auf Index.hr, einem der bekanntesten unabhängigen Nachrichtenportale des Westbalkans: "Die Nato-Bombardierung war der Versuch, nach dem Völkermord 1995 im ostbosnischen Srebrenica Serbien von einem erneuten Genozid abzuhalten". Mit dem Angriffskrieg Russlands sei das nicht zu vergleichen.

In den letzten Jahren stand der Einsatz immer wieder im Mittelpunkt durch Behauptungen, die Zahl der Krebskranken in Serbien sei durch den Abwurf von Munition mit abgereichertem Uran sprunghaft gestiegen. Erst im Juni kündigte Rechtsanwalt Srdjan Aleksic an, im Namen von 3.340 an Krebs erkrankten Serben vor heimischen Gerichten gegen die Nato zu klagen. Laut dem serbischen Epidemiologen Zoran Radovanovic gibt es jedoch keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass abgereichertes Uran Krebs auslöst. Auch ein dramatisches Ansteigen der Krebsrate sei nicht zu beobachten. Unabhängig davon bleibt die Erinnerung an die Nato-Bomben in dem Westbalkan-Staat allgegenwärtig. Der Kanon der wichtigsten historischen Ereignisse lautet: 1389 (Niederlage gegen die Osmanen auf dem Amselfeld), 1804 (Beginn des Aufstandes gegen die Osmanen), 1914 (Beginn des Ersten Weltkriegs), 1941 (Eintritt in den Zweiten Weltkrieg) - und eben 1999.

Der Autor war langjähriger dpa-Korrespondent für Südosteuropa.