Piwik Webtracking Image

Brexit-Streit : Neuer Ton im neuen Jahr

Anders als ihr Vorgänger setzt die britische Außenministerin Liz Truss als Brexit-Chefunterhändlerin auf Kooperation.

17.01.2022
2023-10-02T11:57:47.7200Z
3 Min

Eine Einladung nach Chevening House ist für jeden Staatsgast eine besondere Ehre. Dass sie EU-Kommissar Maros Sefcovic bei seinem Besuch vergangene Woche zuteilwurde, spricht Bände. Liz Truss, Großbritanniens neue Außenministerin, lud den Slowaken in ihre imposante offizielle Residenz. Im 17. Jahrhundert erbaut, liegt das Anwesen im südenglischen Kent, inmitten von Wald und Wiesen. Als Sefcovic die Treppen zum Eingangsportal hinaufstieg, rutschte er zum Schrecken seiner Gastgeber kurz auf den eisigen Steinen aus. Manche mögen das als schlechtes Omen werten.

Ende der Eiszeit

Geht es nach der britischen Chefdiplomatin, soll die Eiszeit jedoch vorbei sein. Seitdem der Brexit nach dem Ende der Übergangszeit zum 1. Januar 2021 Realität wurde, brach der Streit zwischen London und Brüssel nicht ab. Der Konflikt zwischen Paris und London um Fischereirechte im Ärmelkanal eskalierte vergangenen Herbst in gegenseitigen Blockadedrohungen. In der Konfrontation um das "Nordirland Protokoll" kündigte die britische Seite an, sogar aus der Vereinbarung auszusteigen. Zwar wiederholte Außenministerin Truss diese Option nach ihrem Treffen vergangenen Freitag mit Sefcovic. Aber sie betonte auch, dass "es mein absoluter Wunsch ist, einen Deal zu finden, der für die Menschen in Nordirland funktioniert".

Das klingt anders als bei Truss' Vorgänger David Frost. Der ehemalige Brexit-Chefunterhändler hatte vor Weihnachten das Handtuch geworfen, weil er die Linie von Premier Boris Johnson gegenüber der Europäischen Union, aber auch in innenpolitischen Fragen als nicht mehr hart genug beurteilte. Frosts Taktik war es seinerzeit gewesen, in den Verhandlungen mit Brüssel ständig Maximalforderungen auszugeben. Das hatte funktioniert, als die Europäer im Jahr 2020 einen No-Deal unbedingt hatten vermeiden wollen und für das vereinbarte "Handels- und Kooperationsabkommen" Kompromisse eingingen.

Nordirland-Protokoll

Seit jedoch das Vereinigte Königreich ein Drittstaat ist, hat sich die Haltung auf dem Kontinent spürbar verhärtet, ganz besonders im Streit um das Nordirland-Protokoll. In den 2017 begonnenen Brexit-Verhandlungen war Nordirland das schwierigste Kapitel. Die Grenze zwischen dem britischen Norden und der Irischen Republik sollte unbedingt offenbleiben. Doch wie kontrollieren, dass keine Güter aus Nordirland in den Binnenmarkt eindringen, die gegen EU-Vorschriften verstoßen? London und Brüssel einigten sich in dem Protokoll, dass Nordirland Teil des EU-Binnenmarkts für Güter bleibt. Deshalb müssen seither aus Großbritannien kommende Waren an nordirischen Häfen kontrolliert werden. Das aber ist für die probritischen Unionisten eine Provokation. Sie fühlen sich vom Mutterland abgeschnitten. Im vergangenen Jahr gab es kurzzeitig teilweise gewalttätige Proteste in Belfast. Die EU-Mitgliedstaaten sind jedoch nicht zu einer Änderung des von Boris Johnson verhandelten und unterzeichneten Abkommens bereit. "Wir bestehen auf die vollständige Einhaltung der beschlossenen Abkommen, insbesondere bezüglich des Nordirlandprotokolls und des Karfreitagsabkommens. Bei Nicht-Einhaltung der vereinbarten Standards und Verfahren setzen wir auf eine konsequente Anwendung aller vereinbarten Maßnahmen und Gegenmaßnahmen", heißt es etwa im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung.

Mit dieser deutlichen Richtungsvorgabe ist Berlin nicht allein. Vergangenen November schlossen sich die europäischen Reihen um Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, als dieser Johnson im Fischereistreit mit Blockaden der für die Briten existenziellen Handelsroute Calais-Dover drohte. Laut Brexit-Vertrag steht es beiden Seiten offen, bei Verstößen Teile oder den ganzen Vertrag auszusetzen und damit "Gegenmaßnahmen" einzuleiten.

Angesichts des wirtschaftlichen Schadens, den die Corona-Pandemie auch in Großbritannien anrichtet, will Johnson für das Nordirland-Protokoll ein solches gesamtbritisches Risiko offensichtlich nicht eingehen. Statt zu drohen, will Truss jetzt die Durchführung der Vorschriften verbessert sehen. Schon im Oktober hatte EU-Kommissar Sefcovic ein Papier vorgelegt, das etwa die Kontrollen von für Ulster bestimmte Güter aus Großbritannien um 80 Prozent reduzieren soll. Die europäische Seite hatte zudem rechtliche Regeln geändert, damit die Versorgung mit medizinischen Produkten kurzfristig sichergestellt wurde.

Ungeklärte Fragen

Aber viele Fragen sind offen. So haben die Europäer noch immer nicht den vereinbarten vollen Zugriff auf die britischen Daten, um den Handel über die Irische See zu überwachen. Vertreter des EU-Parlaments werden ungeduldig. "Was bedeutet ,jetzt'? ,Jetzt' hören wir schon so lange", beschwert sich Bernd Lange, SPD-Abgeordneter und Vorsitzender des Handelsausschusses im Europäischen Parlament über Sefcovics Ansage vom vergangenen Freitag, "jetzt" die offenen Fragen abzuräumen. 

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.