Der Fall Afghanistans : Vom Tempo überrascht
Zeugen berichten im Afghanistan-Untersuchungsausschuss vom rasantem Vormarsch der Taliban.
Wann war für die Bundesbehörden ersichtlich, dass die radikalislamischen Taliban die Macht in Afghanistan an sich reißen würden? Und woher haben die Mitarbeiter der Bundesministerien, der Bundeswehr und des Bundesnachrichtendienstes (BND) ihre Informationen bezogen und wie haben sie diese untereinander ausgetauscht? Den Antworten auf diese Fragen ist der erste Untersuchungsausschuss des Bundestages am vergangenen Donnerstag mit dem Auftakt der Zeugenbefragungen ein Stück näher gekommen. Nach der Vernehmung von zwei Mitarbeitern des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg) und eines Oberstleutnants der Bundeswehr zeigte sich: Alle drei geladenen Zeugen waren überrascht, wie schnell die Taliban die Macht in Afghanistan zurückerobern konnten.

Das verlassene Bundeswehr-Camp Marmal am 26. Juni 2021, wenige Wochen vor der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Mitarbeiter des Bundesverteidigungsministeriums hatten offenbar schon länger erwartet, dass die Islamisten zurückkehren könnten - nur nicht so schnell.
Der befragte Oberstleutnant leitet heute die Abteilung Strategie und Einsatz, und war 2020 für morgendliche Berichte über die Gefährdungs- und Sicherheitslage des deutschen Kontingents zuständig. Sie habe dabei eng mit dem Lagereferenten des BMVg zusammengearbeitet und die Berichte synchronisiert, betonte der Zeuge. Auch seien alle Informationen ausgewertet worden, die aus nationalen, internationalen und afghanischen Quellen zur Verfügung gestanden hätten.
Im Anschluss befragte der Ausschuss den Referatsleiter im Militärischen Nachrichtenwesen beim Bundesverteidigungsministerium. Der Oberstleutnant berichtete dem Gremium von drei Szenarien, die seine Abteilung im Februar 2020 zusammengestellt habe. Eines habe die Entstehung einer Republik mit einer inklusiven Regierung unter Beteiligung der Taliban umfasst. Das zweite einen Bürgerkrieg, abhängig vom Widerstandswillen der afghanischen Bevölkerung. Das dritte einen Regimewechsel, also eine Machtübernahme der Taliban, in 24 Monaten. "Das letzte Szenario war für uns am wahrscheinlichsten", erklärte der BMVg-Mitarbeiter.
Doha-Abkommen stand kurz vor der Unterschrift
Zu diesem Zeitpunkt stand das Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban, das den kompletten Rückzug der internationalen Truppen vorsah, kurz vor der Unterschrift. Die Taliban hätten die internationalen Truppen danach nicht mehr angegriffen, berichtete der Oberstleutnant. Dadurch hätten sie aber Gelegenheit gehabt, ihre ganze Kampfkraft gegen die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) zu richten und ihren Vormarsch zu beginnen.
„Propaganda ist in Regionen, in denen es keine weitere Informationsquellen gibt, ein effektives Mittel.“
Ihm zufolge hätten die überdehnten afghanischen Einheiten ohne Luftunterstützung der US-Luftwaffe keine Chance gehabt gegen die Taliban. Vor allem kleinere Stellungen seien von den Islamisten regelrecht überlaufen worden, viele afghanische Soldaten seien entweder geflüchtet oder übergelaufen. Die Taliban hätten daraufhin immer mehr Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Dort konnten sie Propaganda betreiben und größeren Zulauf gewinnen. "Propaganda ist in Regionen, in denen keine weitere Informationsquellen gibt, ein effektives Mittel", erklärte der Zeuge. Die Kampfmoral der afghanischen Armee sei dadurch noch weiter gesunken - oder im Militärjargon: die Abnutzung der afghanischen Streitkräfte hat weiter zugenommen.
Wie seine Abteilung auf die 24 Monate gekommen sei, wollten die Abgeordneten wissen. Sie habe die Kampfkraft beider Seiten verglichen, Erfahrungswerte eingesetzt und die Abnutzung der afghanischen Sicherheitskräfte einbezogen, so der Oberstleutnant. Weil die ASNF zu diesem Zeitpunkt noch 300.000 Mann gezählt habe und die Taliban zahlenmäßig unterlegen gewesen seien, habe sie nicht vorhersehen können, dass die afghanische Armee am Ende so schnell auseinanderfallen würde.
Die Frage, ob es interne Meinungsverschiedenheiten oder gar politische Einflussnahme gegeben habe, verneinte der Zeuge. Auf seiner Ebene habe es das nie gegeben.
Lagebild thematisiert
Zu Beginn der Sitzung hatte bereits der für die tägliche Lagebeobachtung und -beurteilung zuständige Mitarbeiter des BMVg eingeräumt, dass seine Abteilung ein so erdrutschartiges Ende bis kurz vor dem Fall Kabuls nicht erwartet hätte. Erst spät sei ihm klar geworden, dass der Kipppunkt überschritten sei: "Wir haben die Geschwindigkeit des Auseinanderfallens der afghanischen Kräfte falsch eingeschätzt", erklärte er.
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Die Bundesregierung wollte sich Zeugen zufolge weiter in Afghanistan engagieren.

20 Jahre dauerte der Einsatz in Afghanistan, in dem gleichzeitig gekämpft und das Land aufgebaut wurde. Am Ende scheiterte beides.
Der Abschluss des Doha-Abkommens sei im Grunde ein Fingerzeig gewesen, dass der internationale Einsatz zu Ende gehe - und darauf, wie zielgerichtet die Taliban ihre Interessen verfolgt hätten.
Zeuge berichtet von einger Überraschung
Ihr Ziel sei die Errichtung eines islamischen Gottesstaates gewesen, führte er aus. Sie seien dabei sehr strukturiert vorgegangen und hätten in jeder eroberten Provinz Schattenstrukturen gebildet. Zuletzt seien sie selbst von der Schnelligkeit des eigenen Vorrückens überrascht gewesen, hätten Kabul kampflos eingenommen, und wären mit der Bildung von Verwaltungsstrukturen kaum hinterhergekommen.
Für die deutschen Streitkräfte habe man aus der sich zuspitzenden Situation die richtigen Handlungen abgeleitet, urteilte er gleichwohl. Für die Bundeswehr und seinen Tätigkeitsbereich als Lagereferent sei es darum gegangen, die eigenen Kräfte bestmöglich zu schützen, Gefährdungen zu verringern und die Kräfte herauszubringen. Die Schutz- und Warnfunktion seiner Dienststelle habe funktioniert, zeigte er sich überzeugt. Der Ablauf "ist aus unserer Sicht erfolgreich gewesen".
Der Autor war lange Korrespondent in Kabul und arbeitet heute als freier Journalist in Berlin.