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Gastkommentare : Hat der Staat "Reichsbürger" unterschätzt? Ein Pro und Contra

Hat der Staat die sogenannten Reichsbürger unterschätzt und zu lange gewähren lassen? "Ja", sagt Gastkommentator Stephan Hebel, Daniel Goffart hält dagegen.

19.12.2022
2024-01-08T10:17:12.3600Z
4 Min

Pro

Es hätte längst gehandelt werden müssen

Foto: Alex Kraus
Stephan Hebel
arbeitet als freier Journalist.
Foto: Alex Kraus

Es mag Menschen geben, die sich in der Vergangenheit beim Thema "Reichsbürger" das Grinsen nicht verkneifen konnten. Bei denjenigen, die keine Verantwortung tragen für die Verteidigung des Rechtsstaats, mag das verständlich gewesen sein - abstrus ist es ja tatsächlich, mit selbstgemachten Ausweisen eines herbeifantasierten Staates herumzulaufen.

Wer aber Verantwortung für dieses Land trägt, hätte längst handeln müssen. Seit Jahrzehnten geistert die krude Idee vom Fortbestand des einstigen Deutschen Reichs durch die rechte Szene. Und auch vor der jüngsten Razzia hatte es erschreckende Beispiele gegeben für die Gewaltbereitschaft und Gefährlichkeit, mit der sich diese Ideologie verbindet. Dass rechtsextremes Gedankengut bis in die Sicherheitskräfte reicht, ist ebenfalls lange bekannt.

Innenministerin Nancy Faeser (SPD) gehört sicher nicht zu denen, die die Gefahr unterschätzten: Sie hat bereits in diesem Frühjahr eine konsequente Entwaffnung von Rechtsextremisten angekündigt. Aber warum musste sie das überhaupt? Was taten eigentlich ihre Vorgänger, nachdem sie Jahr für Jahr bei ihren eigenen Behörden nachlesen konnten, wie die Gewalt aus dieser Ecke zunahm?

Seit Langem warnen Kundige aus der Zivilgesellschaft und Teilen der Politik davor, diese Umtriebe zu unterschätzen. Aber bis heute wollen viele Konservative und FDP-Leute das Problem nicht als ein strukturelles betrachten, obwohl längst klar ist, dass antidemokratisches Gedankengut von rechts bereits in die "Mitte der Gesellschaft" vordringt. Und selbst jetzt wehrt sich die FDP gegen schärfere Regeln im Waffenrecht. Es fragt sich, ob man das noch "unterschätzen" nennen kann - oder Verharmlosen durch Verweigerung.

Contra

Überblick über die Umstürzler war vorhanden

Foto: Privat
Daniel Goffart
ist Chefreporter bei der "Wirtschaftswoche" in Düsseldorf.
Foto: Privat

Schon die groß angelegte und (inklusive Medienbegleitung) sorgfältig geplante Verhaftungsaktion gegen die Verschwörer deutet darauf hin, dass der Staat die sogenannten Reichsbürger weder unterschätzt noch sträflich unbeobachtet gelassen hat. Auch die an mehr als 150 Orten gleichzeitig durchgeführten Durchsuchungen und Festnahmen bilden ein weiteres Indiz dafür, dass sich der Verfassungsschutz sowohl auf Landes- wie auch auf Bundesebene einen offenbar recht weiten Überblick über die Umstürzler verschaffen konnte. Solche Erkenntnisse gewinnt man nicht binnen weniger Tage, sondern das setzt eine monatelange Beobachtung und vor allem intensive Ermittlungsarbeit voraus.

Der Vorwurf früherer Tage, wonach der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind sei, lässt sich im Fall der versuchten "Reichsbürger"-Revolte deshalb sicher nicht erhärten. Zudem wird eine koordinierte Aktion mit mehr als 3.000 Beamten verschiedenster Behörden nicht von höchster Stelle genehmigt, wenn Zweifel an der Bedeutung und der Gefahr bestünden, die von den Umstürzlern ausgehen. Dass sich innerhalb der rund 23.000 Menschen umfassenden Szene ein gewaltbereiter und rechtsradikaler Kern bildete, der einen bewaffneten Staatsstreich vorbereitet, ist rechtzeitig erkannt und das Vorhaben mit staatlicher Entschlossenheit verhindert worden.

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Offen ist jedoch die Frage, wie tief die Vernetzung der Umstürzler in die Gesellschaft reicht. In Deutschland hat sich eine amorphe Szene gebildet, die bei Wutbürgern und Verschwörungstheoretikern aller Art beginnt und die bis in ein rechtsextremes, ja terroristisches Lager hineinreicht. Hier besteht noch Aufklärungsbedarf.