Inhalt

Aufgekehrt
Alexander Weinlein
Die nackten harten Fakten

Wenn er es denn könnte, dann würde er vielleicht verständnislos mit dem Kopf schütteln. Und selbst dies täte er mit so viel jugendlicher Anmut und zugleich männlicher Vitalität, dass die Menschen zu seinen Füßen in ekstatische Verzückung gerieten. Doch David wird sein schönes Haupt nicht schütteln, stattdessen den Blick weiter abschätzend auf den nahenden Goliath richten. Fokussiert, würden Sportreporter sagen. Es kann einer 5,17 Meter hohen und sechs Tonnen schweren Marmor-Skulptur, geschaffen vom großen Michelangelo persönlich, auch reichlich egal sein, wenn im US-Bundesstaat Florida die Schulleiterin der Tallahassee Classical School entlassen wird, weil sie Schülern der sechsten Klasse im Kunstunterricht mit dem Bild des nackten David angeblich jugendgefährdende Pornographie präsentiert hat. Zumindest sahen das die Eltern der Schüler so und gingen gegen die Schulleiterin vor.

Nun weiß man natürlich nicht, welche konkreten Vorstellungen von Pornographie an einer christlich ausgerichteten Privatschule in Florida so kursieren. Aber der Stein des Anstoßes ist nun wirklich kaum der Rede Wert, nimmt sich neben der rechten Hand des muskulösen Renaissance-Jünglings fast schon winzig aus, trotz des harten Marmors ganz entspannt. Schließlich bereitet sich David - nackt hin oder her - gerade nicht auf ein erotisches Stelldichein vor, sondern auf einen Kampf auf Leben und Tod. Der Unterschied sollte im Land der weltweit größten Porno-Industrie eigentlich geläufig sein.

Apropos Pornographie. Unabhängig vom amerikanischen Kunstverständnis hofft man ja, dass wenigstens die Rechtsprechung im Bundesstaat New York im Prozess gegen Donald Trump die nackten harten Fakten nicht mit einem Feigenblatt verdeckt.

Aus Politik und Zeitgeschichte

© 2023 Deutscher Bundestag