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Foto: picture alliance/AA/Mostafa Alkharouf
Tausende Israelis demonstrierten am Unabhängigkeitstag in Tel Aviv erneut gegen die geplante Justizreform der Regierung Netanjahu.

Unabhängigkeitstag in Israel : Tiefe Kluft, ungelöste Probleme

Israel feiert seinen 75. Geburtstag, aber die Gesellschaft ist tief gespalten. Säkulare und Religiöse stehen sich weiter unversöhnlich gegenüber.

02.05.2023
2024-01-24T14:48:03.3600Z
4 Min

Eigentlich hätte Israels Unabhängigkeitstag in diesem Jahr ein besonders feierliches Ereignis werden sollen: Das Land feiert seinen 75. Geburtstag. Am 14. Mai 1948 wurde die israelische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet. Drei Jahre nach dem Ende des Holocaust, in dem sechs Millionen Juden ihr Leben und viele weitere ihre Angehörige und ihr Zuhause verloren, konnten die Juden in aller Welt endlich einen Nationalstaat für sich beanspruchen.

Von einem nationalen Freudenfest kann ausgerechnet zum 75. Jubiläum der Staatsgründung jedoch keine Rede sein. Das Land ist so gespalten wie nie zuvor. Während die offiziellen Feiern zum Unabhängigkeitstag (nach hebräischem Kalender am 25. April) am Jerusalemer Herzlberg über die Bühne gingen, hielten Hunderte Israelis nur wenige Meter entfernt eine Protestkundgebung ab. Zeitgleich feierten mehrere Tausend Teilnehmer eine "Protest-Party" in Tel Aviv. Israels Demokratie sei "einer Attacke ausgesetzt", erklärten die Initiatoren des Protests in Tel Aviv. "Gegen diesen Angriff stellen sich Millionen von Israelis, die unser Land lieben und nicht bereit sind, auch nur das kleinste Quantum an Demokratie und Gleichheit aufzugeben."

Nationalflagge ist zum Symbol des Protests geworden

Die Demonstranten schwenkten blau-weiße Fahnen und riefen "Demokratie, Demokratie!". Bereits seit dem Beginn der Massendemonstrationen gegen die Pläne der Regierung, in denen Kritiker die Abschaffung der demokratischen Gewaltenteilung sehen, verwandelte sich Israels Nationalflagge zu einem Leitsymbol des Protests. Die Demonstranten, die für sich in Anspruch nehmen, den Staat Israel vor seiner Regierung zu beschützen, benutzen dasselbe Symbol, das auch die Polizisten auf der Brust tragen, wenn sie mit Wasserwerfern gegen eben diese Demonstranten vorgehen. Nichts verdeutlicht besser, wie zerrissen das Land ist, als die Flagge, die eigentlich alle miteinander vereinen sollte.


„Wir schlafen nicht.“
Demonstrantin in Tel Aviv

Seit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das Aussetzen der umstrittenen Justizreform verkündet hatte, finden die Proteste gegen die Pläne in kleineren Skalen statt. Immer noch gehen aber jeden Samstag mehrere Tausend Menschen in den meisten Großstädten auf die Straße. "Wir schlafen nicht", sagt eine der Demonstrantinnen in Tel Aviv.

Inzwischen ist aber auch das rechte Lager aufgewacht und mobilisiert seinerseits zu Massenprotesten. Das Ziel: Druck auf die Regierung auszuüben, damit sie ihre Pläne zur Entmachtung der Justiz weiterverfolgt. Paradoxerweise sind es die Regierungsparteien selbst, die ihre Anhänger teils offen, teils verdeckt aufrufen, sich den Protesten anzuschließen.

Die Bedrohung Israels durch den Erzfeind Iran lässt nicht nach

Der drohende Bürgerkrieg, vor dem Israels Staatspräsident Itzchak Herzog vor acht Wochen gewarnt hatte, bleibt auch weiterhin ein realistisches, düsteres Szenario. Die inneren Konflikte, die Israels politische Akteure nun beschäftigen, verstellen den Blick auf jene akuten Probleme, die das Land im Griff haben. Die Bedrohung Israels durch den Erzfeind Iran lässt nicht nach, im Gegenteil: Teherans nukleare Aufrüstung ist weit fortgeschritten, und alle Versuche, diesen Aufrüstungsprozess zu stoppen, sind gescheitert.

Die iranische Bedrohung ist aber auch im Landesinneren Israels spürbare Realität. Die Terrorgruppen von Hizbollah und Hamas nehmen das Land an mehreren Fronten in die Klemme: durch Raketenbeschuss vom Gazastreifen aus, zuletzt sogar aus dem nördlichen Libanon. Dazu kommt die tägliche Gewalt im Westjordanland, Schussattentate und Auto-Rammattacken häufen sich. Waren es zuvor eher jüdische Siedlungen im Westjordanland und Armeestützpunkte, die von Terroristen angegriffen wurden, treffen diese Attentate nun auch wieder ins Herz des israelischen Lebens - der Terror ist nach Tel Aviv und Westjerusalem zurückgekehrt.

Die Strengreligiösen nehmen überwiegend nicht am Wehrdienst teil

Die alltägliche Terrorgefahr überdeckt jene längerfristigen beunruhigenden Szenarien, die einer Lösung bedürfen. Israels Bevölkerung wächst massiv an. Waren es zur Staatsgründung nur 800.000 Menschen, die in Israel lebten, steuert man heute auf eine Bevölkerung von zehn Millionen Menschen zu. Das Wachstum beschleunigt sich: Im statistischen Durchschnitt bekommt jede israelische Frau 2,9 Kinder, unter den Ultraorthodoxen sind es statistisch sogar 6,6 Kinder. Wie diese stark anwachsende Bevölkerung auf gleichbleibender Fläche leben soll, weiß niemand - zumal Israel kaum größer ist als das Bundesland Hessen.

Da die Strengreligiösen mehr als doppelt so viele Kinder zur Welt bringen als der Durchschnitt, nimmt ihr Bevölkerungsanteil stetig zu. Er liegt jetzt bei 13 Prozent, unter den Israelis unter 18 Jahren gehört heute aber schon jeder Fünfte der ultraorthodoxen Minderheit an. Das stellt den Staat vor neue Herausforderungen: Die Strengreligiösen nehmen überwiegend nicht am Wehrdienst teil, der Großteil von ihnen besucht nicht einmal eine Schule, die sich an staatlich geregelte Curricula hält. Englisch und Mathematik wird dort vielfach erst gar nicht unterrichtet. Es wird in Zukunft also weniger Israelis geben, die zu Israels militärischer und wirtschaftlicher Kraft beitragen können.

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Die Kluft zwischen Religiösen und Säkularen begleitet Israel schon seit der Staatsgründung. Dazu kommen Konflikte zwischen den europäischstämmigen aschkenasischen Juden und den minderprivilegierten sephardischen Juden.

All diese Konflikte köcheln seit Jahrzehnten unter der Oberfläche, immer wieder brechen sie aus. Neu ist, dass sich die verschiedenen Fragmente in Israels Gesellschaft zu zwei geballten Kräften kondensiert haben, die einander bekämpfen. Wer dabei zuallererst zu kurz kommt, ist die größte Minderheit im Land, die israelischen Araber: Sie müssen mitansehen, wie ihre Interessen in der Hitze des innerjüdischen Konfliktes in Vergessenheit geraten.

Die Autorin berichtet für den österreichischen "Standard" aus Israel.