Nur acht, mit der Schreibmaschine eher luftig beschriebene Seiten umfasst das Dokument. Getippt auf französischem Vertragspapier entstand es in einem zum Sekretariat umfunktionierten Badezimmer des schicken Pariser Hotels "Bristol", in unmittelbarer Nachbarschaft zum Amtssitz des französischen Präsidenten Charles de Gaulle. Erst kurz zuvor hatten der General und Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) sich entschlossen, die Ergebnisse ihrer Verhandlungen über die künftigen deutsch-französischen Beziehungen in einem rechtlich stärker bindenden Staatsvertrag festzuschreiben. Das führte am Morgen des 22. Januar 1963 unter anderem dazu, dass ein junges Mitglied der deutschen Delegation ziemlich ratlos durch die noble Rue du Faubourg Saint-Honoré lief, um eine dem Protokoll einigermaßen entsprechende Mappe für das für die Bundesrepublik Deutschland bestimmte Vertragsexemplar zu finden.
Der Mitarbeiter fand schließlich eine hellblaue Ledermappe, und nachdem in Paris eiligst auch noch Siegelstempel angefertigt worden waren, unterschrieben Adenauer und de Gaulle den Vertrag schließlich zusammen mit einer Gemeinsamen Erklärung am selben Tag im Salon Murat des Elysée-Palastes.
Neue Ära Der Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, kurz Elysée-Vertrag (siehe Stichwort), markierte 18 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine neue Ära in der Aussöhnung beider Staaten. Er verpflichtete beide zu Freundschaft und enger Zusammenarbeit in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen.
In der Bundestagsdebatte zum 60. Jubiläum des Vertrages würdigten vergangenen Donnerstag alle Fraktionen die große Bedeutung des Dokuments. Von einer "politischen Revolution" sprach Armin Laschet (CDU), Andrej Hunko (Die Linke) nannte den Vertrag eine "historische Errungenschaft, ein wunderbares Ereignis und vielleicht auch ein Stück weit ein Vorbild für andere Regionen in der Welt". Viele Abgeordnete verbanden diese Anerkennung aber auch mit der Mahnung, das deutsch-französische Verhältnis weiter gut zu pflegen und trotz zahlreicher Differenzen zu gemeinsamen Lösungen zu kommen.
Gerade jetzt sei mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und die Klimakrise eine enge Abstimmung zwischen beiden Ländern "bitternötig", betonte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Die Grünen-Abgeordnete Chantal Kopf verwies darauf, dass die europäische Integration immer dann vorangeschritten sei, "wenn Deutschland und Frankreich sich trotz unterschiedlicher Perspektiven einig wurden". Sie verband dies mit einem Appell an die eigene Regierung, mehr Initiative zu zeigen. Frankreichs Präsident Macron, so Kopf, habe zahlreiche europäische Debatten und Projekte angestoßen, etwa für eine gemeinsame industriepolitische Strategie. "Man muss das nicht alles richtig finden, aber es ist eine große Aufgabe, all diese Themen gemeinsam zu diskutieren, eigene Vorschläge einzubringen und dann gesamteuropäische Lösungen zu finden."
Noch deutlicher wurden Andrej Hunko und Armin Laschet: Sie warfen der Bundesregierung vor, den wichtigsten Partner in jüngster Zeit zu oft vor den Kopf zu stoßen. Weder die 200 Milliarden Euro schweren Energiehilfen noch die Bestellung von US-amerikanischen F35-Kampfflugzeugen oder seine China-Reise habe der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Macron abgestimmt. Das im Vertrag vereinbarte gemeinsame Handeln "fehlt mir in den letzten Jahren", kritisierte Laschet. Die Deutsch-Französin Sandra Weeser (FDP) mahnte ebenfalls: Wenn Deutschland ein verlässlicher Partner für die EU-Nachbarn sein wolle, müsse es "dringend unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern verringern, offen für pragmatische Lösungen sein, zum Beispiel Atomkraftwerke weiterlaufen lassen, und Schiefergas weiter fördern." Weeser legte damit in den Finger in einige der tiefsten Wunden im deutsch-französischen Verhältnis.
Bekannte Konflikte Während die Ministerpräsidentin des Saarlands, Anke Relinger (SPD), sich dagegen wandte, das Verhältnis "schlechtzureden", nannte es ihr Parteikollege Nils Schmid "normal", dass Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich heute offener zutage träten. So ließen sich "seit Jahrzehnten bestehende Unterschiede in Fragen der Energiepolitik" in der aktuellen Situation nicht mehr beiseiteschieben. Auch der im Januar 2019 zwischen Macron und der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geschlossene neue Freundschaftsvertrag ("Aachener Vertrag") mit seinen konkreten Projekten - unter anderem die Entwicklung eines gemeinsamen Kampfflugzeugs - führe dazu, dass Interessenkonflikte sichtbarer würden. In substanziellen Fragen habe es aber große Fortschritte gegeben. So seien beide Staaten jetzt dafür, "dass die EU große Projekte anschiebt, wie die Batteriezellenfertigung und die Unterstützung der künstlichen Intelligenz".
Für die AfD geht die Aachener Vereinbarung zu weit. Der Vertrag von 1963 sei eine "großartige Leistung der Brüderlichkeit" gewesen, ein Dokument mit "wenig Text und viel Esprit", betonte Norbert Kleinwächter. Demgegenüber manifestiere der Vertrag von Aachen genau das, wovor der frühere französische Außenminister und Wegbereiter des Elysée-Vertrages, Robert Schuman, gewarnt habe: einen "Superstaat EU" und die Bevormundung von Bürgern und anderen Staaten.
In der Pariser Sorbonne-Universität haben die Spitzen beider Staaten gestern den 60. Jahrestag des Elysée-Vertrages mit einem großen Festakt gefeiert.
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