Piwik Webtracking Image

Lage in Israel : Israel rechnet mit einem Zwei-Fronten-Krieg

Das Land bereitet sich auf eine direkte Konfrontation mit der Hisbollah vor. Ein Zwei-Fronten-Krieg wäre für Israel Katastrophe und Gelegenheit zugleich.

21.10.2023
2024-02-26T12:50:59.3600Z
5 Min

Das eindrucksvollste Foto des Besuches von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Israel war zweifellos das Bild der gesamten deutschen Delegation, die sich auf dem Flugplatz Ben Gurion wegen eines Raketenalarms flach auf das Rollfeld legen musste. Der Kanzler selbst war weggebracht worden. Doch das machte keinen Unterschied. Die Deutschen bekamen so einen kleinen "Geschmack" davon, wie sich das anfühlt, wenn Tel Aviv unter Raketenbeschuss kommt.

In Israel gab es darüber keinerlei Schadenfreude, im Gegenteil. Die israelische Öffentlichkeit ist tief beeindruckt von Deutschlands Freundschaft und seinem Bekenntnis zur Sicherheit Israels. Und sie ist dankbar für die Unterstützung des Kanzlers für diesen Krieg gegen die Hamas. Dass die Deutschen selbst erfahren mussten, wie sich ein Raketenangriff anfühlt, das würde das Verständnis für die israelische Position nur noch stärken, so ist man in Israel überzeugt.

Mögliche Vermittlerrolle Deutschlands?

Der Bundeskanzler kann in Zukunft noch viel für Israel tun. So kann die deutsche Solidarität später auch einmal vermittelnd helfen - wenn der Krieg vorbei ist und Israelis und beispielsweise die Palästinensische Autonomiebehörde miteinander reden müssen. Aktuell kann Deutschland Israel mit militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung unter die Arme greifen, und auch das Engagement Berlins für die humanitären Bedürfnisse der palästinensischen Zivilisten in Gaza ist für Israel letztendlich von Vorteil.

Foto: picture alliance/Anadolu/Kobi Gideon

Bundeskanzler Olaf Scholz (rechts) reiste als erster Regierungschef eines EU-Landes nach Israel, um dort unter anderem Premierminister Benjamin Netanyahu (links) zu sprechen.

Die klare Haltung des Kanzlers ist auch aus innenpolitischen Gründen notwendig. In Deutschland explodiert gerade der Antisemitismus. Und das wird in Israel sehr genau wahrgenommen. Der Bundeskanzler hat im Bundestag zwar klare Worte gegen den Judenhass gefunden. Aber in Israel fragt man sich dennoch, wieso Politik, Behörden, Sicherheitskräfte und die deutsche Öffentlichkeit wieder einmal so überrascht sind. Spätestens seit den Gaza-Kriegen 2014 und 2021 hätte man wissen müssen, was auch diesmal auf deutschen Straßen geschehen wird, wie Juden und jüdische Einrichtungen angegriffen werden. Warum dagegen nicht präventiv vorgegangen wurde, stößt in Israel auf Unverständnis.

Verhängnisvolles Narrativ für Israel

Israel wird sein militärisches Vorgehen gleichwohl nicht abhängig davon machen, wie sich der Antisemitismus in Europa weiter entwickeln wird. Sorgenvoller blickt man auf die internationalen Medien, die in völliger Vernachlässigung ihrer Aufgabe vor wenigen Tagen ohne jegliche Recherche auf das Narrativ der islamistischen Hamas aufgesprungen sind. Diese hatte behauptet, Israel habe ein Krankenhaus in Gaza bombardiert, wobei 500 Menschen getötet worden seien. Keine 30 Sekunden später meldeten seriöse Medien weltweit genau das. Sogar die "New York Times" titelte dementsprechend. Erst allmählich revidierten sie ihre Berichte, nachdem israelische und unabhängige Experten zu dem Ergebnis kamen, dass es wohl eher eine fehlgeleitete Rakete der Islamisten war, die den Parkplatz des Krankenhauses getroffen habe, und es dabei höchstens 50 Tote gegeben haben könne.

Doch der Schaden war bereits angerichtet. Die muslimische Welt hatte ihr Narrativ, dass Israel mutwillig Zivilisten töte. Die Folgen konnte man weltweit sehen. So wurde in Berlin eine Synagoge mit Molotow-Cocktails angegriffen. Und das dürfte erst der Anfang sein.

Jenseits der Vernachlässigung journalistischer Kriterien zeigt dieses Beispiel, wie schnell sich in diesem Krieg die Sachlage verändern kann, durch Fake News oder reale Entwicklungen. Fehlgeleitete Raketen und Bomben gehören in einem Krieg leider dazu. Und so hat das "Krankenhaus-Ereignis" die anti-israelische Front intensiviert. Die Hisbollah im Libanon bombardiert Israel immer häufiger und lässt auch die Hamas Raketen von dort abfeuern. Die israelische Armee reagiert und beschießt Positionen der Hisbollah. Unterdessen werden die Bewohner von Nordisrael in Sicherheit gebracht. Freitagmorgen begann Israel die Stadt Kiriyat Shmone zu evakuieren. Rund 20.000 Menschen leben dort.

Alles hängt jetzt vom Iran ab

Es wird immer deutlicher: Israel rechnet mit einem Zwei-Fronten-Krieg. Für den jüdischen Staat wäre das eine Katastrophe und Gelegenheit zugleich. Die schiitische Hisbollah, die ihre Befehle aus dem Iran bekommt, verfügt mit rund 150.000 Raketen, zum Teil präzisionsgesteuert, über ein Waffenarsenal, das Israel extrem gefährlich werden könnte. Die Raketen können jedes Ziel im Land erreichen, ihre Explosionskraft ist immens und größer als die der Raketen der Hamas. Trotz eines hervorragenden Abwehrsystems befürchten israelische Experten, dass es täglich Dutzende, eventuell sogar Hunderte Einschläge geben könnte. Die Hisbollah wird versuchen, insbesondere die zivile und militärische Infrastruktur zu treffen. Deswegen wird die israelische Luftwaffe extrem aggressiv vorgehen müssen, um die Raketen so schnell wie möglich am Boden zu zerstören. Dass dabei viele Zivilisten sterben werden, ist zu befürchten. Wie die Hamas, so agiert auch die Hisbollah aus zivilen Gebieten.

Alles wird nun vom Iran abhängen. US-Präsident Joe Biden hat das Regime in Teheran mehrmals davor gewarnt, in den Krieg einzusteigen. Inzwischen befinden sich zwei US-Flugzeugträger im östlichen Mittelmeer als Warnung und zum Schutz Israels. Sie können jederzeit in den Krieg eingreifen, sollte Ayatollah Khamenei der Hisbollah den Befehl geben, loszuschlagen. Dass er auf alle Fälle zündelt, wurde am Donnerstagabend deutlich. Die Huthis im Jemen, auch Stellvertreter Irans, feuerten drei Raketen in Richtung Israel ab. Diese wurden jedoch von einem amerikanischen Kriegsschiff abgefangen.

Mehr zum Thema

Bewaffnete israelische Soldaten suchen einen Tag nach dem Angriff der Hamas auf Israel Schutz hinter einem Fahrzeug.
Krieg in Israel: Ein Land im Ausnahmezustand
Seit den Angriffen der Hamas am 7. Oktober versucht Israel, die Kontrolle zurückzugewinnen. Ein Überblick über die wichtigten Ereignisse.
Porträtfoto von Guido Steinberg
Fünf Fragen an Guido Steinberg: "Israel muss sich um die Palästinenserfrage kümmern"
Israel muss die Beziehungen zu den Palästinensern verbessern, um neue Kriege zu verhindern, meint Islamexperte Guido Steinberg.

Derweil bereitet Israel seine Bodenoffensive in Gaza weiter vor. Dass sie kommt, ist keine Frage mehr. Am Donnerstag sprachen mehrere Generäle zu ihren Soldaten und stimmten sie auf den Einmarsch ein. Aber alle Verantwortlichen in Israel sind sich einig: Es wird schwer werden, intensiv, brutal, blutig. Ein Bodenkrieg mit vielen Opfern, auch unter den Soldaten. Doch Israel sieht sich mit dem Rücken zur Wand. Das katastrophale Versagen des gesamten Sicherheitssystems am 7. Oktober offenbarte den Feinden Israels, wie schwach der jüdische Staat derzeit zu sein scheint.

Israel will Bild der Schwäche revidieren

Dieses Bild will und muss Israel revidieren, um seine Abschreckungskraft wiederherzustellen. Das Ziel, die völlige Vernichtung der Hamas, ist daher logisch. Premierminister Benjamin Netanyahu, der nun auch vor den Trümmern seiner Sicherheitspolitik gegenüber den Palästinensern steht, hatte in den vergangenen Jahren versucht, mit Zuckerbrot und Peitsche einen gewissen Dialog mit der Hamas zu kreieren. Die Überzeugung, dass man mit Maßnahmen, die die wirtschaftlichen Verhältnisse in Gaza verbessern, Ruhe bekommt, dass die Hamas damit beschäftigt sei, sich als Regierung zu profilieren, hat sich als gänzlich falsch erwiesen. Man ging von falschen Prämissen aus, übersah, dass die Ideologie der Hamas darauf ausgerichtet ist, Juden zu töten. Alle Juden, nicht nur die Zionisten.

Jetzt hat man verstanden. Mit den Islamisten gibt es nichts zu verhandeln, nichts zu diskutieren, nichts zu reden. Die Bevölkerung Israels will geschützt werden. Die israelische Armee muss und soll nun dafür sorgen, dass sie in Zukunft wieder ruhig schlafen kann.

Der Autor war lange Jahre Israel-Korrespondent der ARD und arbeitet heute als freier Journalist in Tel Aviv.