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Neue Unordnung

ZWeiter Weltkrieg Mark Mazower zeigt, wie Hitler die Staaten Europas kolonisierte und seine Macht verspielte

31.08.2009
2023-08-30T11:24:06.7200Z
5 Min

Wie sähe Europa heute aus, wären Hitlers militärische Feldzüge mit politischer Klugheit gepaart gewesen und nach den größten Gebietsgewinnen schnell beendet worden? Würden dann in Paris, Kopenhagen und Warschau Hakenkreuzfahnen wehen und in fast allen europäischen Hauptstädten deutschlandhörige Regime herrschen? Vielleicht. Doch solch wilde Spekulationen verbieten sich in der Regel für Historiker. Es sei denn, sie helfen die tatsächlichen Ereignisse besser zu verstehen und die Entscheidungshorizonte der Akteure genauer auszuleuchten.

Der britische Historiker Mark Mazower käme zwar nie auf die Idee, sich ein faschistisches Europa unter deutscher Vorherrschaft auszumalen. Er fragt in seinem aktuellen Buch "Hitlers Imperium" jedoch danach, wie sich die Nationalsozialisten die politische, wirtschaftliche und soziale Neuordnung eines Nachkriegseuropas vorstellten, welche Vorbereitungen sie während des Krieges trafen und welchen ideologischen Prämissen sie dabei folgten.

Imperiale Prinzipien

Mazowers nicht unbedingt überraschende, aber dennoch zwingende Erkenntnis lautet: Hitler hat niemals ein konkretes und ausgearbeitetes Europakonzept besessen. Mochte er in seinen Reden auch noch so oft das Bild von einem starken, vereinten Kontinent zeichnen, der sich gegenüber der Sowjetunion und den USA erfolgreich behauptet, so träumte der Größenwahnsinnige aus Braunau doch vorrangig vom "rassisch reinen Lebensraum" im Osten und von der unumschränkten Autarkie eines Großgermanischen Reiches. Weder seine Nachbarn im Westen geschweige denn die im Osten hätte er jemals als gleichberechtigte Partner akzeptiert. Ein politischer - wie auch immer gearteter - Zusammenschluss von Nationalstaaten, selbst unter deutscher Vorherrschaft, war für ihn unvorstellbar. Ganz den imperialen Prinzipien des 19. Jahrhunderts verhaftet, behandelte er die Bevölkerung der eroberten Staaten in Europa wie die vermeintlich primitiven Völker in den überseeischen Kolonien. Freilich schonte er dabei die ihm "rassisch reineren" Franzosen und Skandinavier. Doch auch dort griffen seine martialischen Maximen: Ausbeutung und Auslöschung, Versklavung und Vertreibung. Sein Vernichtungs- und Unterdrückungsgedanke kostete Millionen von Menschen das Leben, beschleunigten aber auch den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes.

Pro-deutsche Stimmungen

Mark Mazower hat sich bereits vor knapp zehn Jahren mit seinem Buch "Der dunkle Kontinent" als Kenner der diktatorischen Regime und totalitärer Traditionslinien im Europa des 20. Jahrhundert ausgewiesen. Und auch diesmal beweist er, wie genau er die politischen Verhältnisse und Strömungen in den von Hitler besetzten Staaten kennt. Es ist bisweilen erstaunlich, wie deutschfreundlich manche Vertreter dieser Nationen eingestellt waren. Noch überraschender ist jedoch, dass es Hitler immer wieder versäumte, diese pro-deutschen Stimmungen und Bewegungen in den besetzten Ländern für die eigene Herrschaftssicherung zu nutzen. Stattdessen unterdrückte, knebelte oder gängelte er sie, wenn sie nicht in sein rassistisches oder expansionistisches Raster passten. Durch diese Politik machte er "Freunde" langfristig zu potenziellen Feinden und trieb sie in die Arme der gegen Kriegsende immer weiter wachsenden Widerstandsgruppen.

Besonders die von der Sowjetunion ausgebeutete und unterdrückte Ukraine oder die baltischen Staaten waren bereit, ihn im "Kampf gegen den Bolschewismus" tatkräftig zu unterstützten. Sogar russische Soldaten spielten wegen der barbarischen Verhältnisse in der Roten Armee anfangs mit dem Gedanken, die Fronten zu wechseln. Doch Hitler beharrte entgegen der Empfehlungen des Auswärtigen Amtes und sogar seines Chefideologen Arthur Rosenberg auf dem erbarmungslosen Raub- und Rassenkrieg, der eine "Germanisierung" oder Integration der slawischen Völker so gut wie ausschloss.

Hitlers gewaltsam erobertes Imperium geriet jedoch nicht allein durch die verfehlte und verbohrte Rassenpolitik ins Wanken. Wenn man Marzowers gut belegten Thesen und Fakten folgt, dann war schon der bloße Gedanke, im Osten ein Großgermanisches Reich errichten zu können, eine Illusion. Weder ließ sich die mehrheitlich nicht "germanische" Bevölkerung im Osten so "gründlich beseitigen" noch gab es genügend Deutsche, die bereit waren, den neuen "Lebensraum" zu besiedeln. Diese von Heinrich Himmlers SS gewaltsam durchzusetzenden Ideen waren nicht nur angesichts der demografischen Verhältnisse und der geopolitischen Lage unrealistisch. Auch die fehlenden Konzepte für die politische und ökonomische Verwaltung der besetzten Gebiete sorgten zumindest im Osten für ein "bürokratisches Chaos". Verdiente und besonders grausame Parteifunktionäre statt Verwaltungsexperten hielten dort als Gauleiter das Heft in der Hand. "Zu viel personalisierte Herrschaft, zu viel Improvisation, zu viele neue Behörden", waren laut Marzower das "Grundproblem" einer niemals fest definierten und einheitlichen Herrschaftsform in den besetzten Gebieten. Die Neuordnung Europas unter deutscher Vorherrschaft, die Hitler mit seiner Eroberungszügen angestrebt hat, erwies sich in jeder Hinsicht als neue Unordnung.

All das ist durch Einzelstudien vielfach belegt. In Marzowers Gesamtschau wird aber noch einmal deutlich, welches Ausmaß die Inkompetenz aller Akteure und der ideologische Irrsinn Hitlers hatten. Er zeigt aber auch, dass es nationalsozialistische Theoretiker wie Werner Best oder Wilhelm Stuckart gab, die Hitlers zerstörerischen Imperialismus ablehnten und darauf drangen, einen "Kontinent der Nationen" zu schaffen, die "unter der Herrschaft der ‚natürlichen' Führungsmacht Deutschland zusammenarbeiteten". Auf sie hörte Hitler aber genauso wenig wie auf einige Wirtschaftsexperten aus seinen Ministerien, die bereits einen gemeinsamen europäischen Markt projektierten, der nach der Niederlage Deutschlands schließlich Wirklichkeit werden sollte. Allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen.

Helfer und Kollaborateure

Mazowers Blick auf den Zweiten Weltkrieg ist jedoch im wesentlichen auf die Zertrümmerung der politischen Landschaft Europas unter der nationalsozialistischen Herrschaft gerichtet. Dabei weist er auch immer wieder auf den Charakter anderer Besatzungsregime hin, die wie beispielsweise Rumänien bei der Verfolgung von Minderheiten und der Juden oft ähnlich brutal wie die Deutschen vorgegangen sind. Auch die Kollaboration im Westen und die "Helfer im Osten" bei der "Endlösung" nimmt er kritisch ins Visier. Doch relativiert er damit nie den singulären Charakter der nationalsozialistischen Verbrechen, sondern grenzt den dahinter verborgenen ideologischen und imperialen Wahn des NS-Regimes immer wieder von anderen radikalen Politiken in Europa ab. Dabei vergisst er aber nicht, die Wurzeln des Antisemitismus und Antibolschewismus als gesamteuropäisches Phänomen hervorzuheben. Wieso darauf gerade in Deutschland solch grausame Taten folgten, weiß freilich auch Marzower nicht befriedigend zu beantworten.

Überhaupt spart der Politik- und Ideengeschichtler neben der mentalitätshistorischen auch die militärgeschichtliche Perspektive des Zweiten Weltkriegs aus. Über die sozialpsychologischen Hintergründe der Gewaltorgien berichtet er ebenso selten wie über die fehlgeleiteten Militärstrategien der Wehrmacht. Seine Aufmerksamkeit konzentriert sich vielmehr auf Hitler als bestimmende und verantwortliche Kraft, dessen Entscheidungen letztlich über Sieg oder Niederlage entschieden. Unberücksichtigt bleibt auch eine ganze Reihe neuere Forschungen zum Zweiten Weltkrieg, zum Holocaust und zur nationalsozialistischen Ideologie aus deutscher Feder.

Doch auch ohne diese Aspekte liefert Mark Mazower seinen Lesern ein Bild vom Zweiten Weltkrieg, dass sie in seinen einzelnen Facetten vielleicht schon kannten, das in seiner europäischen Dimension aber erst jetzt so klar vor Augen steht. 70 Jahre nach Ausbruch des Krieges macht seine Darstellung erneut bewusst, warum und wie viele Menschen durch Hitlers Wahnideen sterben mussten. Sie macht aber auch deutlich, dass sein Fanatismus ein faschistisches und autoritäres Europa unter deutscher Führung unmöglich gemacht hat. Das ist die zugleich erschreckende wie beruhigende Erkenntnis aus diesem ebenso lesenwerten wie klugen Buch.

Mark Mazower:

Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus.

Verlag C.H. Beck, München 2009; 666 S., 34 €