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Vorreiter im Osten

POLEN Schon Anfang Juni 1989 gab es die ersten halbwegs freien Wahlen im Ostblock

12.10.2009
2023-08-30T11:24:10.7200Z
3 Min

Mehrere tausend DDR-Bürger nahmen im Spätsommer und Herbst 1989 den Weg nach Osten, um nach Westen zu gelangen. Täglich meldeten sich im September und Oktober mehrere Dutzend Menschen an der Pforte der deutschen Botschaft im Warschauer Stadtteil Saska Kepa auf dem Ostufer der Weichsel. Sie mussten nicht wie in Prag über den Botschaftszaun klettern, sondern wurden von den polnischen Wachposten problemlos durchgelassen. Sie mussten auch nicht auf Etagenbetten zu Dutzenden in einem Raum oder einem Zelt auf dem Botschaftsgelände abwarten, wie die große Politik über ihr Schicksal entschied. Vielmehr brachten das Polnische Rote Kreuz, die Caritas und andere kirchliche Organisationen sie ohne großes Aufheben in Erholungsheimen und Schulen unter.

In Warschau hatte der erste nichtkommunistische Nachkriegspremier, der katholische Publizist Tadeusz Mazowiecki, erst wenige Tage zuvor seine Amtsgeschäfte aufgenommen. Die DDR-Flüchtlinge waren die erste große Bewährungsprobe der von ihm geführten neuen Regierung, einer Koalition aus der Demokratiebewegung um die Gewerkschaft Solidarnosc und den bislang regierenden Kommunisten.

Aufbruchstimmung

Dass Warschau damals den DDR-Bürgern unbürokratisch half, hat indes keinen Platz in der großen europäischen Erzählung über das Wendejahr 1989 gefunden, es fehlen den Polen nämlich die Bilder dazu - Bildikonen wie der Auftritt des Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, dessen Freiheitsbotschaft im Jubelgeschrei tausender DDR-Flüchtlinge im dunklen Park unter ihm untergeht. In Polen gab es zwar Bilder vom Runden Tisch, an dem sich im Frühjahr 1989 die angesichts des drohenden Staatsbankrotts ratlose Führung der kommunistischen Arbeiterpartei und die Solidarnosc unter Lech Walesa auf die Teilung der Macht geeinigt hatten - aber dies war kein revolutionärer Akt, sondern ein politischer Kompromiss, dessen Sprengkraft wohl von den meisten Akteuren selbst gar nicht erkannt wurde.

"Dass wenige Monate nach dem Runden Tisch der Ostblock zerfiel, so weit dachten wir nicht", sagt der mittlerweile 82 Jahre alte Mazowiecki heute: "Es galt erst einmal, die Versorgungskrise zu überwinden." Im Sommer 1989 gab es immense Schlangen vor den Geschäften. Doch im Lande herrschte Aufbruchstimmung. Denn am 4. Juni hatten in Polen die ersten zumindest teilweise freien Wahlen im Ostblock stattgefunden, so war es am Runden Tisch vereinbart worden. Die Wahlen endeten mit einem Erdrutschsieg der Solidarnosc. Allerdings blieben im Sejm, dem polnischen Parlament, zwei Drittel der Sitze den regierenden Kommunisten und den bisherigen Blockparteien, der Bauernpartei und der Demokratischen Partei, vorbehalten.

Knappe Mehrheit

Die kommunistische Führung war nicht bereit, die Macht aus den Händen zu geben: Die Arbeiterpartei versuchte, den bisherigen Innenminister, General Czeslaw Kiszczak, als Regierungschef durchzusetzen. Der aber war für die Solidarnosc nicht akzeptabel, er war nämlich für schwerste Menschenrechtsverletzungen unter dem Kriegsrecht verantwortlich, auch unterstand ihm der Staatssicherheitsdienst SB, der in der Solidarnosc den Hauptfeind sah. Walesas Berater kamen auf die Idee, heimlich Verhandlungen mit den kleinen Blockparteien über eine Koalition aufzunehmen. Diese würde über eine knappe Mehrheit im Sejm verfügen, die Kommunisten müssten in die Opposition gehen.

In der Tat gelang es der Solidarnosc, die Bauernpartei und die Demokratische Partei auf ihre Seite zu ziehen, womit der kommunistische Staatschef Wojciech Jaruzelski nicht gerechnet hatte. Doch machte er gute Miene zum aus seiner Sicht bösen Spiel, unter der Bedingung, dass die Kommunisten weiterhin Armee, Polizei und Geheimdienste sowie den Außenhandel kontrollierten. Die Solidarnosc sollte dafür die Wirtschaftsprobleme lösen.

Dies erwies sich als weitaus schwieriger als gedacht: Nach nur 16 Monaten kam Ende 1990 das Aus für Mazowiecki als Regierungschef. Doch waren während dieser Zeit in allen Satellitenstaaten Moskaus die kommunistischen Regimes gestürzt worden.

400.000 Sowjetsoldaten

Heute erinnert Mazowiecki daran, dass er im Spätsommer 1989 keine andere Wahl hatte, als Armee und Sicherheitsapparat den Kommunisten zu überlassen, musste er doch die Nachbarn beruhigen: In Prag und Ost-Berlin regierten noch Beton-Kommunisten, in Moskau drohten die Reformen Michail Gorbatschows zu versanden, seine Gegner wurden immer stärker. Auch standen noch mehr als 400.000 Rotarmisten im Lande, und der sowjetische Geheimdienst KGB kontrollierte den polnischen Sicherheitsapparat.

Bald nach Mazowieckis Amtsantritt wagte sich der damalige Vorsitzende der Solidarnosc-Fraktion im Sejm und spätere Außenminister Bronislaw Geremek, weit vor: Er schrieb im September 1989 in einem Artikel, Polens neue Führung halte die deutsche Wiedervereinigung für unausweichlich. In Bonn wurde sein Artikel verlegen oder kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. Sechs Wochen später wurde die Berliner Mauer geöffnet, Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) war an dem Tag ausgerechnet in Warschau.