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Das Projekt

Monumentales Werk Heinrich August Winkler präsentiert den ersten Teil seiner faszinierenden »Geschichte des Westens«

01.02.2010
2023-08-30T11:25:46.7200Z
5 Min

Als vor 20 Jahren der kommunistische Ostblock zusammenbrach, feierte US-Präsident George Bush senior das als "Sieg des Westens". Politikwissenschaftler und Historiker fragten sich, ob angesichts einer sich abzeichnenden globalen Alleinherrschaft von Kapitalismus, Liberalismus und Demokratie das Ende des Zeitalters ideologischer Kämpfe oder sogar das "Ende der Geschichte", wie Francis Fukuyama meinte, gekommen sei. Doch der Aufstieg neuer, nicht-westlicher Mächte wie China oder der islamischen Welt widerlegte diese voreilige Vermutung. Gänzlich erschüttert wurde der westliche Optimismus durch den Schock von "Nine Eleven" und dem seitherigen Kampf des Westens mit einem radikalen Islamismus, der das westlich-liberale Modell nicht akzeptiert. Es scheint sich die Vorhersage Samuel P. Huntingtons ("The Clash of Civilizations") zu bestätigen, dass die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts von konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen Ländern und Gruppierungen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit bestimmt sein wird.

Von Analytikern der jetzt entstehenden polyzentrische Weltordnung wird oft geraten, der Westen solle selbstbewusst in diese kulturellen Auseinandersetzungen gehen, aber nicht - wie es in der Geschichte meist der Fall war - überheblich und mit imperialistischem Gestus. Weil der Westen in den letzten 250 Jahren einen in der Weltgeschichte einzigartigen Prozess der geistigen Aufklärung durchlaufen hat, ist die politische und gesellschaftliche Verfasstheit seiner Staaten moderner, freier und pluralistischer als etwa in der islamischen Welt. Die Selbstbestimmungsrechte des Individuums gegenüber den Ansprüchen staatlich-politischer und klerikaler Autoritäten sind im Westen so stark wie sonst nirgends auf der Welt. Diese Errungenschaften der Aufklärung sollte der Westen mit Nachdruck in den Weltdiskurs einbringen, dabei aber mit den nicht-westlichen Gesprächspartnern einen respektvollen, gleichberechtigten Dialog führen.

Die Herrschaft des Rechts

Zu den "menschenfreundlichen Errungenschaften", von denen der Westen die Welt überzeugen sollte, gehören "Menschenrechte, Gewaltenteilung und Herrschaft des Rechts", deren Abwesenheit "jedes Gemeinwesen über kurz oder lang in ernste Gefahr bringt", schreibt der Geschichtswissenschaftler Heinrich August Winkler in seinem neuen Werk über den Westen. "Aufzwingen freilich lässt sich diese Einsicht niemandem", vergisst er nicht anzumerken. "Auch manche westliche Nationen, darunter Deutschland, haben schließlich lange gebraucht, bis sie zu dieser Einsicht gelangten und sie zu beherzigen begannen."

Aber was ist das nun eigentlich, der "Westen"? Eine geographische, eine politische Bezeichnung? Oder eher eine kulturelle? Ist damit eine Wertegemeinschaft gemeint? Oder kommen dem Westen alle diese Merkmale mehr oder weniger zu? Schließlich: Wie ist der Westen im Lauf der Jahrhunderte geworden, was er heute ist? Fragen, die unser Selbstverständnis als Angehörige des Westens betreffen und denen wir uns angesichts eines sich intensivierenden Dialogs der Weltkulturen - denken wir etwa an Hans Küngs "Projekt Weltethos" - dringend zuwenden sollten.

Einen willkommenen Beitrag zur westlichen Selbstvergewisserung liefert nun Winkler mit seiner auf zwei Bände angelegten "Geschichte des Westens". Eine herkulische Aufgabe, die sich der renommierte deutsche Historiker gestellt hat. Allein der jetzt vorgelegte erste Band umfasst über 1.300 Seiten. Winkler spannt den Bogen in vier Teilen von der jüdisch-christlichen Antike übers christliche Mittelalter zum Humanismus; im zweiten Teil geht er von der Reformationszeit bis zur Amerikanischen Revolution; in Teil drei von der Französischen Revolution bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und schließlich von der Epoche der Nationalstaaten und Imperien bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Trotz der immensen Zeiten und Räume, die bei einem solchen Unternehmen umgriffen werden, will Winkler mit seiner "Geschichte des Westens" keineswegs eine "histoire totale" liefern, sondern eine "Problem- und Diskursgeschichte", einen "Versuch, die Hauptprobleme der europäischen und der nordamerikanischen Geschichte sowie das Nachdenken über sie in ihrem atlantischen oder westlichen Zusammenhang zu erörtern." Bei seinem Versuch, typisch "Westliches" zu bestimmen, weist Winkler zunächst auf Max Weber hin. Der Soziologe hatte 1920 den okzidentalen Rationalismus, wie er sich in den empirisch vorgehenden Wissenschaften oder im Fachmenschentum zeigte, als typisch westliche Kulturerscheinungen hervorgehoben. Winkler aber verfolgt in seinem Buch einen anderen Ansatz. Er richtet den Blick auf normative und politische Errungenschaften des Westens wie Menschen- und Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität, repräsentative Demokratie und Pluralismus, die er für typische, teilweise singuläre westliche Standards hält. Diese Errungenschaften - oder auch Zielsetzungen - nennt Winkler "das westliche Projekt", welches durch "Ungleichzeitigkeit seiner Verwirklichung" in den verschiedenen Ländern und oft auch vom Widerspruch zwischen Theorie und Praxis gekennzeichnet ist.

Völlig zurecht betont Winkler gleich zu Beginn des Buchs die prägende Rolle des Monotheismus jüdischer beziehungsweise altägyptischer Herkunft und des daraus hervorgehenden Christentums für die Herausbildung einer westlich-okzidentalen Iden- tität. Er bemerkt, dass die Trennung der weltlichen von der religiösen Sphäre als typisch westliches Phänomen kein absolutes Novum der neuzeitlichen Aufklärung und Moderne ist, sondern sich keimhaft schon in dem biblischen Jesuswort "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist"findet. Dies ist ein interessanter Hinweis, wenn man bedenkt, dass alle mittelalterlichen Geisteskämpfe stets unter Berufung auf die Autorität der Bibel ausgefochten wurden; auch der Kampf um die Sphären von "imperium" und "sacerdotium", von kaiserlicher und päpstlicher Gewalt, welcher die europäische Geschichte des westlichen Mittelalters durchzieht. In der Neuzeit kam dann die Vollendung der Trennung von Kirche und Staat als typisch westliches Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses, an dessen Ende moderne laizistische Staaten wie Frankreich stehen.

Wissenschaft und Religion

Auch die Emanzipation des wissenschaftlichen Denkens aus klerikal-religiöser Bevormundung - ebenfalls ein typisch westliches Phänomen - beginnt, wie bei Winkler deutlich wird, nicht erst in der Neuzeit. Lange vor Galilei war, wenn auch zaghaft, ein Prozess der Abkoppelung des wissenschaftlichen Denkens von der Religion innerhalb der kirchlich-theologischen hohen Schulen im Gang, was der Philosoph Oswald Schwemmer die "geistige Selbst-Säkularisierung des Christentums" nannte und am Beispiel Berengars von Tours aufzeigte.

Der Theologe Berengar hatte bereits im 11. Jahrhundert mit den Mitteln der dialektisch-rationalistischen Argumentation, wie sie auf allen hohen geistlichen Schulen gelehrt wurde, den Nachweis zu erbringen versucht, dass das Brot beim Abendmahl nicht in den wirklichen Leib Christi verwandelt wird, sondern diesen nur symbolisch repräsentiert. Zwar musste Berengar diese häretische Lehre widerrufen, aber immerhin war mit seinem Versuch einer Art frühen "Entmythologisierung" ein Anfang in dem gemacht, was man freies, wissenschaftliches Forschen jenseits religiöser Autoritätsgebundenheit nennt, und was erst mehrere Jahrhunderte später im Westen zum Standard wurde.

Revolutionen

Zwei Höhepunkte in der Geschichte des europäisch-amerikanischen Westens stellt Winkler besonders heraus: die Amerikanische Revolution von 1776 und die Französische Revolution 1789. Denn seit diesen beiden Revolutionen und ihren welthistorisch bedeutsamen Erklärungen der Menschenrechte "war das Projekt des Westens im wesentlichen ausformuliert", schreibt er. "Der Westen hatte einen Maßstab, an dem er sich messen konnte - und messen lassen musste."

Wir wissen, dass im 20. Jahrhundert, ja bis heute, der Westen seinem eigenen Maßstab oft nicht genügte, bisweilen aufs Schrecklichste dagegen verstieß. Damit wird sich auch Heinrich August Winkler im zweiten Band seiner - bislang wirklich faszinierenden - "Geschichte des Westens" beschäftigen müssen.

Heinrich August Winkler:

Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert

Verlag C.H. Beck, München 2009; 1.343 S., 38 €