Piwik Webtracking Image

Wider das Vergessen

27. JANUAR Im Bundestag gedachten Zeitzeugen und Politiker der Opfer des Nationalsozialismus

01.02.2010
2023-08-30T11:25:46.7200Z
7 Min

Peter Johann Gardosch ist noch ein wenig ungehalten an diesem Morgen, als er den Südeingang des Berliner Reichstagsgebäudes betritt und sich den Schnee vom langen blauen Mantel klopft. Zwei Polizisten mit Hunden laufen an ihm vorbei. Es sind nicht die verschärften Sicherheitsvorkehrungen rund um den Bundestag, die den 79-Jährigen ärgern, auch wenn er wegen der Absperrungen einen Umweg von 15 Minuten machen musste. Gardosch ärgert sich noch immer über eine Fernsehsendung vom Vorabend, in der Israels Staatsoberhaupt Shimon Peres im Fernsehen versehentlich als Ministerpräsident tituliert wurde. Gardosch griff direkt zum Hörer: "Mein Herr", sagte er zu dem Mitarbeiter am anderen Ende der Leitung, "Shimon Peres ist nicht der israelische Ministerpräsident, er ist der Staatspräsident. Wissen Sie das nicht?" Auch jetzt, nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hat, ist er wütend über den Fauxpas.

Peter Johann Gardosch, geboren 1930, ist an diesem 27. Januar einer von mehr als 600 geladenen Gästen bei der zentralen Gedenkveranstaltung des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus. Zu diesen Opfern zählt auch Gardoschs Familie, deutsch sprechende Juden aus Siebenbürgen. 1996 proklamierte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 als nationalen Gedenktag. Der Bundestag veranstaltet seitdem alljährlich eine Gedenkstunde.

Nicht zum ersten Mal nimmt Gardosch daran teil. Als er auf einer der grauen Besuchertribünen über den Abgeordnetenbänken im Plenarsaal Platz nimmt, sieht er beim Blick nach oben in der Kuppel Polizisten statt der sonst üblichen Besucher. Neben dem polnischen Historiker und Holocaust-Überlebenden Feliks Tych ist in diesem Jahr Shimon Peres als Redner geladen; es gilt Sicherheitsstufe Eins.

Zahlreiche Ehrengäste

Beim Blick nach vorn zum Rednerpult erinnert sich Gardosch an den jüngst verstorbenen jüdischen Publizisten Ernst Cramer, der vor vier Jahren hier gesprochen hat: "Er hat es einfach auf den Punkt gebracht, als er sagte, dass Deutschland noch nie so tief gesunken ist wie unter den Nationalsozialisten." Nach und nach setzen sich auch die anderen Gäste, darunter die ehemalige Bundestagspräsidentin, Rita Süssmuth (CDU), und Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Lala Süsskind, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin, kommt mit gebrochenem Bein im Rollstuhl zur Veranstaltung. Der britische Stargeiger Daniel Hope nimmt mit seinem Ins-

trument auf einem Stuhl vor der Regierungsbank Platz. Er wirkt ein wenig verloren vor dem Kabinett, das einen halben Meter über ihm thront.

Der Gong ertönt. Alle erheben sich. Die Ehrengäste betreten den Plenarsaal. Gardosch wird unruhig. "Wo ist dieser Übersetzungsapparat?" fragt er. "Ich brauche ihn für Peres." Er verstehe nur ein wenig Hebräisch. Unter einer zusammengefalteten Zeitung lugt der Apparat hervor. Gardosch rückt seine große gold-gerahmte Brille zurecht und dreht das kleine Rädchen am Apparat auf sechs. Der Kanal für die Übersetzung ins Deutsche, auch wenn zunächst Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) spricht.

"Als Auschwitz am 27. Januar 1945 befreit wurde, hatte das Lager fünf Jahre, fünf unendlich lange Jahre bestanden. In dieser Zeit wurden allein dort mehr als eine Million Menschen ermordet", sagt Lammert. Unter ihnen waren auch Gardoschs Mutter, seine fünfjährige Schwester und seine Großeltern. Er und sein Vater waren mit ihnen am 5. Juni 1944 aus seiner Heimatstadt Neumarkt am Miresch im heutigen Rumänien nach Auschwitz deportiert worden. Dort wurden die Männer von den Frauen getrennt: "Das Letzte, was ich von meiner Mutter gesehen habe, war ihr Strohhut", erinnert sich Gardosch. Obwohl Freunde zuvor von Deportationen berichtet hätten und davon, dass alle Juden umgebracht würden, habe seine Mutter angenommen, dass die Familie zur Feldarbeit eingeteilt würde. "Dafür hatte sie sich einen Strohhut zum Schutz gegen die Sonne besorgt." Mutter, Schwester und Großeltern wurden kurz nach der Ankunft in Auschwitz in den Gaskammern ermordet. Der damals 13-Jährige und sein Vater kamen mit dem ersten Häftlingstransport nach Bayern, in das Arbeitslager Kaufering. In einem Außenlager des Konzentrationslagers Dachau machten ihn die Nationalsozialisten am 18. Juni 1944 zur Nummer 72034.

Lammert spricht von der Verpflichtung, jede Form von Diskriminierung und Antisemitismus zu bekämpfen, und erneuert "unser Versprechen, dass wir das, was in der Vergangenheit geschehen ist, nicht vergessen". Es bewege ihn sehr, sagt Gardosch später, dass Deutschland sich immer wieder aufs Neue dazu verpflichte, "die besondere geschichtliche Verantwortung", wie der Bundestagspräsident es formulierte, "wach zu halten". Er selbst ist pessimistisch: "In hundert Jahren werden nicht mehr viele wissen, was sich hinter dem Namen Auschwitz verbirgt."

Sichtbare Zeichen

Dennoch geht Gardosch in Schulen, damit junge Menschen erfahren, was passiert ist und was die Shoa bedeutet. Manchmal wundere er sich, wie wenig seine Zuhörer wissen. Jedes sichtbare Zeichen, das den Menschen im Alltag begegnet, sei deshalb wichtig - Zeichen wie die Skulpturen des Bildhauers Hubertus von Pilgrim: Häftlinge auf ihrem Todesmarsch. 21 gleiche Skulpturen erinnern heute in Süddeutschland an die Stationen der Todesmärsche. Auch Gardosch und sein Vater mussten im April 1945 marschieren, von Kaufering über die Autobahn nach Allach. "Als ein Auto in die Menge fuhr, entstand Chaos", erzählt der 79-Jährige. Die Gelegenheit nutzten er und sein Vater zur Flucht. Heute trägt er am Revers seines grauen Flanellanzugs einen ovalen Anstecker, der die Pilgrim-Skulptur gerahmt von den Worten "Todesmarsch von Dachau - Gedenken im Würmtal" zeigt.

Inzwischen hat er die Kopfhörer aufgesetzt, sitzt leicht nach vorne gebeugt, um Shimon Peres, der nun spricht, besser sehen zu können. "In unserer uralten jüdischen Tradition", beginnt der Friedensnobelpreisträger, "findet sich ein Gebet in der aramäischen Sprache, das in Erinnerung an die Toten gesagt wird. Dieses weit über tausend Jahre alte jüdische Gebet konnten weder die Mütter sprechen, deren Säuglinge ihren Armen entrissen wurden, noch die Väter, die ihren Kindern einen letzten Blick zuwarfen, bevor sie in die Gaskammern gepfercht wurden, noch hörten es die Kinder, die im Krematorium in Rauch aufstiegen." Dann holt der 86-Jährige Peres eine Kippa aus der Anzugtasche, setzt sie auf und beginnt, das Gebet zu sprechen. Während sich Gardosch und andere erheben, macht sich bei einigen im großen Plenarsaal lautlos Unruhe breit. Sitzen bleiben oder aufstehen? Nach kurzem Zögern stehen nach und nach alle auf. Da hat Shimon Peres das Gebet fast beendet.

Nie wieder

Dann erzählt der Präsident von seinem Großvater, dem "wertvollsten und ehrlichsten Menschen, den es je gab":"Eingehüllt in den Gebetsmantel, inmitten aller Betenden in der Synagoge, in meinem Geburtsstädtchen Wiszniewo" sehe er ihn noch vor sich. "Ich hüllte mich damals ebenfalls in den Gebetsmantel meines Großvaters und lauschte seiner schönen klaren Stimme", sagt Peres. Als Elfjähriger musste er sich von seinem Großvater verabschieden. Peres emigrierte mit seinen Eltern nach Israel, der Großvater blieb in Wiszniewo zurück, das damals zu Polen und heute zu Weißrussland gehört. Sie sahen sich nie wieder. Mit den anderen Juden der Stadt wurde er von den Nazis in die örtliche Synagoge getrieben. "Die Türen wurden von draußen verriegelt, und das Holzgebäude wurde angezündet. Von der gesamten Gemeinde blieben nur glühende Asche und Rauch", sagt Peres, bevor er "zur bedeutendsten aller Lehren" kommt und mit lauter werdender Stimme mahnt: "Nie wieder, nie wieder eine Rassenlehre. Nie wieder ein Gefühl von Überlegenheit. Nie wieder eine scheinbar gottgegebene Berechtigung zur Hetze, zum Totschlag, zur Erhebung über das Recht. Nie wieder zur Verleugnung Gottes und der Shoa."

Auch von einem "neuen Deutschland" spricht der Präsident des jüdischen Staates und sogar von der "einzigartigen Freundschaft", die sich zwischen Israel und der Bundesrepublik entwickelt habe: "Diese Freundschaft führt aber nicht dazu, dass wir die Shoa vergessen, sondern wir sind uns der Finsternis, die im Todestal der Vergangenheit herrschte, bewusst - auch im Angesicht der gemeinsamen, klaren Entscheidung, unseren Blick nach vorne zu richten", fügt Peres hinzu. Als er seine Rede beendet, erheben sich Abgeordnete und Gäste und applaudieren ihm minutenlang. "Es war sehr schön", sagt Gardosch leise.

Er ist in Gedanken noch bei Peres' Worten, als Feliks Tych zum Rednerpult geht und sagt: "Als Deutschland den Krieg begann, war ich zehn. Am 1. September 1939 sollte mein fünftes Schuljahr beginnen. Doch bis zum Ende der deutschen Besatzung ging ich nicht mehr zur Schule. Das Dritte Reich hatte mit jüdischen Kindern anderes vor." Er schildert, wie er den NS-Terror im Gegensatz zu einem großen Teil seiner Familie überlebte. Dann kommt er zur "europäischen Komplizenschaft" und verweist auf die Kooperation der Nationalsozialisten etwa mit der "willfährigen Polizei in den meisten besetzten Ländern". Nichts könne den NS-Staat von der Verantwortung für den Holocaust, dem die Nürnberger Gesetze den Weg bahnten, freisprechen, betont Tych."Aber es gibt auch keinen Grund, die Regierungen Ungarns, Rumäniens, der Slowakei, Bulgariens oder Kroatiens, die diese Gesetze nachahmten, in der Erzählung über den Holocaust auszusparen."

Nach Tychs Rede steht der Geiger Daniel Hope auf: "Dieses Stück widme ich meinen Großvätern Wilhelm Valentin und Clemens Klein", sagt der 35-Jährige. Valentin sei von den Nazis ermordet, Klein nahm sich einige Monate nach der Reichspogromnacht das Leben. Dann erfüllt Maurice Ravels "Kaddisch" den großen Raum. Nach dem letzten Ton ist es lange still - bis zum Applaus. Gardosch sagt nach der Gedenkstunde, Peres habe in ihm Erinnerungen geweckt, Erinnerungen an schöne Momente der Kindheit. Auch sein Großvater habe ihn in der Synagoge in seinen Gebetsmantel gehüllt. "Shimon Peres", sagt er "hat für mich gesprochen."