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Boom am Bosporus

TÜRKEI Die Wirtschaft ist aber nur eine Seite der Medaille - der Mangel an Menschenrechten die andere

26.07.2010
2023-08-30T11:26:01.7200Z
5 Min

Von einem kräftigen Wirtschaftswachstum getragen will die türkische Regierung die Rolle des Sorgenkindes unter den EU-Beitrittskandidaten hinter sich lassen. "Heute kann die EU der Türkei nicht mehr sagen, sie könne als Mitglied nicht akzeptiert werden, weil die Wirtschaftskraft zu gering und das Land zu arm sei", sagte der für Wirtschaftsfragen zuständige türkische Staatsminister und Vize-Regierungschef Ali Babacan in Brüssel. Was denn dann mit vergleichsweise armen Staaten wie Bulgarien und Rumänien sei, fragte er.

Mit 11,7 Prozent Wirtschaftswachstum im ersten Quartal dieses Jahres hat die Türkei nun auch optimistische Prognosen übertroffen. Während sich andere Staaten in der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise um Finanzspritzen des Internationalen Währungsfonds bemühen mussten, verzichtete die Türkei nach fast zwei Jahre dauernden Verhandlungen auf ein Kreditprogramm. Die türkischen Banken sind ohne dramatische Pleiten durch die Krise gekommen, auch weil sie viele Fehler schon früher gemacht haben als etwa Europa und die USA.

Wirtschaftlich geht es in dem 72-Millionen-Staat aufwärts. Die Großstädte im Westen ändern schell ihr Gesicht und wandeln sich zu Wirtschaftszentren, in denen die Fabriken nicht mehr nur verlängerte Werkbank für deutsche Unternehmen sind. Deutschland ist dabei Wirtschaftspartner Nummer 1. Die deutsche Wirtschaft drängt auf eine noch engere Anbindung der Türkei, die sich als Drehkreuz für Geschäfte mit dem Nahen Osten und Asien anbietet. Die Zahl deutscher Unternehmen mit einer Niederlassung in der Türkei ist auf etwa 4.000 gestiegen. Die Entwicklung befeuert die Fantasie von Investoren.

Die Schattenseite

Doch die Wirtschaft ist nur die Sonnenseite der Entwicklung. Bürgerrechte und demokratische Freiheiten liegen im Schatten. Vor allem der ungelöste Konflikt um die Rechte der Kurden hat die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP inzwischen wieder mit aller Macht eingeholt. Hoffnungen auf ein Ende des Konflikts, bei dem in den vergangenen 25 Jahren mehr als 42.000 Menschen getötet worden sind, haben sich nicht erfüllt. Kurden-Vertreter beklagen, dass derzeit etwa 1.500 politische Repräsentanten in Gefängnissen und Polizeistationen festgehalten werden. Das sei die höchste Zahl seit vielen Jahren.

Seit dem Jahr 2006 seien in der Türkei Tausende von Kindern festgenommen worden, weil sie sich an Demonstrationen beteiligten, bei denen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK unterstützt wurde, kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Mit einer rigorosen Anwendung der Anti-Terrorgesetze verletze die Türkei aber systematisch Rechte von Kindern. "Kinder werden auf Demonstrationen mit Schlagstöcken niedergeprügelt, verhaftet, mit Erwachsenen in eine Zelle gesperrt und schließlich wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zu hohen Haftstrafen verurteilt", kritisiert die Organisation.

Versöhnung mit den Nachbarn

Auch bei der Versöhnung mit dem lange verfeindeten Nachbarland Armenien blieb es bisher beim Hoffnungsschimmer. Im Oktober vergangenen Jahres hatten die Türkei und Armenien Protokolle über die geplante Aufnahme diplomatischer Beziehungen unterzeichnet, die aber beide Staaten nicht ratifiziert haben. Die Frage, ob und in welcher Form die Türkei einen Völkermord anerkennen muss und ob dies am Anfang eines Friedensprozesses stehen muss oder Ergebnis eines solchen sein kann, wird unterschiedlich beantwortet. Die Türkei wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, dass die Verfolgung von Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord anerkannt wird.

Dafür baut Erdogans Regierung die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum benachbarten Iran und den arabischen Staaten aus. Ungeachtet des Atomstreits will die Türkei das Handelsvolumen mit dem Iran bis zum kommenden Jahr auf 20 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppeln. Und in der arabischen Welt wird der islamisch-konservative Erdogan gefeiert, auch weil er das bisher verbündete Israel immer schärfer für die Leiden der Palästinenser kritisiert. Im Orient ist Erdogan ein politischer Star, in der EU fühlt er sein Land als "Prügelknaben" behandelt.

Erdogan selbst ist seinen westlichen Partnern seit dem vergangenen Jahr mitunter unheimlich geworden. Mit seinem aufbrausenden Temperament strapazierte er in letzter Zeit immer wieder die Nerven so mancher Verbündeter und fand sich dann international schließlich allein wieder. Vor allem aus den USA und von der säkularen türkischen Opposition kommt Kritik an einer "Verschiebung der Achsen" in der türkischen Außenpolitik - weg von Europa, hin nach Osten. Diese Warnung kommt mal als Kritik an Erdogans Regierung, mal in der Gestalt von Mahnungen an die Adresse der EU-Staaten, die der Türkei keine sichere politische Perspektive bieten.

Für die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth, die auch Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag ist, ist der türkische EU-Betritt eine Frage der Vertragstreue, der Verbindlichkeit und der Glaubwürdigkeit der EU. "Die Türkei hat mit dem Ankara-Abkommen bereits im Jahre 1963 die Zusage bekommen, der europäischen Wertegemeinschaft beitreten zu können, wenn sie deren Werte vorbehaltlos teilt, ihre Politik daran orientiert und die daraus erwachsenden Rechte und Verpflichtungen garantiert. Deshalb zielt das Gerede von der privilegierten Partnerschaft letztlich auf einen privilegierten Ausschluss ab", sagt sie. Eine Türkei in der EU würde wie ein Leuchtturm die Strahlkraft der gemeinsamen Werte auf die islamische Welt vermitteln. Allerdings sei die Reformdynamik in der Türkei nach zunächst großen Fortschritten mittlerweile ins Stocken geraten. «Die AKP-Regierung verdient viel Kritik und Tadel, weil sie in vielen Punkten inkonsequent ist und bisweilen populistisch agiert beziehungsweise dem Druck der populistisch-nationalistischen Opposition nachgibt", sagt Roth. Dass die EU keine klaren, einheitlichen positiven Signale sende, sei aber mitverantwortlich für die stockenden Reformen. Deutschland und Frankreich seien die größten Bremser.

Kurskorrektur

Dass die Türkei eine Kurskorrektur in ihrer Nachbarschaftspolitik vornehme, sei an sich keine Umorientierung oder Verschiebung der Achse, sondern zunächst eine sehr positive Entwicklung, meint Roth. "Wenn die Türkei eine Entspannungspolitik in ihrer Nachbarschaft und der Region betreibt, die stabilisierend wirkt, ist das auch im Interesse der EU und Europas. Die Türkei-Gegner in der EU sollten diesen Kurs nach Kräften unterstützen, anstelle ihn zum Anlass zu nehmen, um die Türkei draußen zu halten."

Führende AKP-Politiker bestreiten immer wieder, dass sich ihr Land von Europa abwende und nun in Bündnissen mit dem Osten und dem Süden eine Alternative sehe. Sie bestehen auf der EU-Vollmitgliedschaft.

Aber womöglich würde sich die oft als Brücke zwischen den Kontinenten und den Kulturen bezeichnete Türkei schon jetzt nicht mehr mit einer Rolle als Vorposten der westlichen Welt im Orient zufrieden geben. Die Probleme zeichnen sich schon jetzt ab, wenn es um die Kontrolle der EU-Außengrenzen und die Überwachung von Migranten geht, die die Türkei als Transitland Richtung EU nutzen. Die Türkei erleichtert seit 2009 Jahr Bürgern nahöstlicher und afrikanischer Staaten die Einreise, ziert sich aber, wenn es um die Rückführung illegal eingereister Migranten aus der EU geht.

Zumindest bei der Bevölkerungsentwicklung gleichen sich die Verhältnisse mit steigendem Wohlstand etwas an. Inzwischen ist auch in der Türkei die Geburtenrate gesunken. Ministerpräsident Erdogan wünscht sich deshalb: Jedes Ehepaar soll mindestens drei Kinder bekommen. Ansonsten, so seine Prognose, werde es dem Land bis zum Jahr 2038 wegen Überalterung schlecht ergehen. Der Regierungschef hat deshalb sogar schon öffentlich über eine Babyprämie nachgedacht.

Der Autor ist Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul.