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»Viele Orte des Bösen«

RECHTSSTAAT Ehemalige Heimkinder wollen für erlittenes Unrecht entschädigt werden

20.12.2010
2023-08-30T11:26:12.7200Z
3 Min

In der Heimerziehung der frühen Bundesrepublik gab es sehr viele Orte des Bösen." Die Bilanz der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), die in den vergangenen zwei Jahren den "Runden Tisch Heimerziehung" moderiert hat, fällt eindeutig aus. Zwei Jahre lang hat das Gremium Akten gewälzt, Betroffene befragt, Möglichkeiten der Entschädigung ausgelotet. Am vergangenen Montag präsentierte Vollmer den Abschlussbericht. Festgehalten ist darin, dass viele der rund 800.000 Kinder, die von 1949 bis in die 1970er Jahre in Heimen lebten, Gewalt, Erniedrigung, sexuelle Übergriffe und Zwang zu unentgeltlicher Arbeit erleiden mussten. Nicht nur heute, sondern schon damals seien das Rechtsverstöße gewesen, betonte Vollmer. Allerdings sind diese in der Regel verjährt, was es schwierig macht, den geschunden Heimkindern zu ihrem Recht und zu etwas Gerechtigkeit zu verhelfen. "Der Rechtsstaat fordert eine zeitnahe Korrektur von Unrecht. Ist etwas verjährt, wird es in der Regel nur für die Zukunft korrigiert", sagte Vollmer.

Historischer Vorgang

Aufgrund dieser schwierigen Situation war der Runde Tisch eingerichtet worden. Das sei ein beispielloser Vorgang in der Geschichte des Bundestages gewesen, wie Vollmer erinnerte. Denn erstmals hatte das Parlament Ende 2008 die Aufgabe, Unrecht aufzuklären und zu entschädigen, an ein außerparlamentarisches Gremium übertragen. Zuvor hatte sich der Petitionsausschsschuss bereits jahrelang intensiv mit dem Leiden der ehemaligen Heimkinder befasst. "Die Arbeit des Runden Tisches und seine Ergebnisse zeigen, was mit einer Petition erreicht werden kann", bilanzierte der Grünen-Abgeordnete Josef Winkler, einer der damaligen Initiatoren im Petitionsausschuss.

Am 19. Januar wird der Abschluss- bericht offiziell an Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) übergeben. Der Bundestag wird sich dann zügig mit den Vorschlägen des Runden Tisches auseinandersetzen, wie alle Fraktionen auf Anfrage bestätigten. Möglichst im kommenden Jahr soll das parlamentarische Verfahren abgeschlossen sein. "Wenn wir uns anstrengen, schaffen wir das", zeigt sich Marlene Rupprecht (SPD) optimistisch, die als einzige Bundestagsabgeordnete am Runden Tisch gesessen hat.

Das Gremium hat einstimmig beschlossen, dass Bund, Länder und Kirchen insgesamt 120 Millionen Euro zu je einem Drittel bereitstellen. Davon sollen 100 Millionen Euro in einen Fonds für Folgeschäden der Heimerziehung und 20 Millionen Euro in einen Rentenersatzfonds fließen. Das Geld soll den Opfern bei regionalen Anlaufstellen individuell zuerkannt werden, wenn diese die an ihnen verübte Gewalt "glaubhaft" gemacht haben. Die Hürden sollen laut Vollmer niedrig gehalten werden.

Viele ehemalige Heimkinder sind dennoch enttäuscht über das Ergebnis. Die Zustimmung der Opfervertreter zum gemeinsamen Abschlussbericht sei "erzwungen und erpresst" worden, kritisierte etwa die Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder (VeH), Monika Tschapek-Güntner. Die früheren Heimkinder am Runden Tisch seien vor die Wahl gestellt worden, entweder der Fondslösung zuzustimmen oder finanziell leer auszugehen. Der VeH fordert eine pauschale Opferrente in Höhe von 300 Euro monatlich oder eine Einmalzahlung von 54.000 Euro.

Gegen pauschale Lösung

Die familienpolitische Sprecherin der Unions-Fraktion, Dorothee Bär (CSU), hält die vom Runden Tisch vorgeschlagenen individuellen Lösungen für richtig: "Nur so können neue Ungerechtigkeiten vermieden werden", betonte sie. Doch selbst die vom Runden Tisch empfohlenen Entschädigungen sind noch nicht in trockenen Tüchern: Neben den Kirchen müssen der Bundestag und die elf westdeutschen Landesparlamente entsprechende Regelungen schaffen. Marlene Rupprecht geht davon aus, dass sich die Abgeordneten auf einen interfraktionellen Antrag einigen, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die Voraussetzungen zur Einrichtung der Fonds zu schaffen. Die kinderpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Diana Golze, betonte, eine "gemeinsame Initiative wäre sicher angemessen". Die Länder und Kommunen dürften mit der Organisation und Finanzierung des Netzwerks an Beratungsstellen nicht allein gelassen werden.

Der FDP-Abgeordnete Jens Ackermann äußerte sich hingegen skeptisch zu einer bundesgesetzlichen Lösung. In der Pflicht seien zuerst die Länder und Kirchen als Träger der Heime, in denen Kindern in der Frühphase der Bundesrepublik so viel Leid widerfahren sei. Zugleich sprach sich Ackermann dafür aus, dass sich der Bundestag in einer Debatte erneut des Themas annimmt. Schließlich habe der Petitionsausschuss die jetzige Aufarbeitung des Unrechts angestoßen. Der FDP-Politiker befürwortete die Forderung ehemaliger Heimkinder, das Unrecht in DDR-Kinderheimen ebenfalls zu thematisieren.