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Die Hölle von Bagdad

MENSCHENRECHTE Sorge um weltweite Religionsfreiheit

20.12.2010
2023-08-30T11:26:11.7200Z
3 Min

Bombenanschläge, blutige Geiselnahmen, Diskriminierung: Seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 sind Christen im Irak zur Zielscheibe von Fundamentalisten geworden. Fast täglich werden Angehörige der religiösen Minderheit getötet oder verletzt. Folge ist ein Exodus von Christen - seit Monaten flieht, wer kann, ins Ausland oder in das sichere Kurdengebiet im Norden Iraks. Die Hauptstadt Bagdad hat bisher rund zwei Drittel ihrer Gemeindemitglieder verloren. Im ganzen Land hat sich die Zahl der Christen schätzungsweise auf etwa 500.000 mehr als halbiert.

Die menschenrechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion, Erika Steinbach, ist besorgt: "Nicht alle Christen haben die Möglichkeit, das Weihnachtsfest in Ruhe und auch in Frieden zu begehen", sagte sie am Freitag im Bundestag in der Debatte über die Religions- und Glaubensfreiheit. Ihr Fraktionskollege Volker Kauder machte klar, wie groß die Gefahr gerade jetzt für die Christen ist: "Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest müssen Christen in Bagdad und in anderen Gemeinden Mauern um ihre Kirchen ziehen, damit sie an Heiligabend ihren Gottesdienst einigermaßen ungestört feiern können."

Zusammen mit der FDP hatte die Unionsfraktion einen Antrag (17/2334) mit der Forderung vorgelegt, die Religions- und Glaubensfreiheit weltweit zu schützen. Darin weisen die Abgeordneten unter anderem darauf hin, dass das Christentum aufgrund seiner "Verbreitung und seines schnellen Wachstums" in Ländern ohne Religionsfreiheit "mit 200 Millionen Menschen die größte verfolgte religiöse Minderheit" ist.

Dem Antrag stimmte der Bundestag mit Mehrheit zu, neben der Koalition votierte auch die Grünen-Fraktion mit Ja. Die allerdings legte einen Änderungsantrag (17/4227) vor, um deutlich zu machen, "dass es um die Verfolgung aller Glaubensrichtungen" gehe, wie Volker Beck erklärte. Wie zahlreiche weitere Abgeordnete der Opposition kritisierte er die "Fokussierung" der Koalitionsfraktionen auf die verfolgten Christen und wies unter anderem auf die schwierige Lage der Bahai in Ländern wie Ägypten oder dem Iran hin. "Wir dürfen nicht immer nur bei den Christen laut aufschreien und bei den anderen wegschauen", warnte Beck.

Grüne und SPD hatten jeweils eigene, in weiten Teilen ähnliche Anträge zum Schutz der Glaubens- und Religionsfreiheit vorgelegt (17/2424, 17/3428). Diese lehnte der Bundestag jedoch mit den Stimmen von Union und FDP ab.

Angelika Graf (SPD) zitierte eine aktuelle Studie der Universität Münster, um den Blick auch auf innenpolitische Defizite zu lenken. So wertete sie die Tatsache, dass nur die Hälfte der Deutschen religiöse Vielfalt als bereichernd empfinde, als Hinweis darauf, "dass auch wir uns in Deutschland mit dem Thema Religions- und Glaubensfreiheit noch intensiver befassen müssen, übrigens unter Einbeziehung der hier lebenden Muslime und religiöser Minderheiten". Ähnlich äußerte sich der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, Tom Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen). Er sprach von "anti-muslimischen Affekten" in Deutschland und Europa und warnte mit Blick auf Burka-Verbote in einigen EU-Ländern: "Freiheit kennt keine Kleiderordnung!"

Für Raju Sharma von der Linksfraktion ist die Gleichberechtigung der Religionen auch in Deutschland "längst keine Wirklichkeit". Er fragte in Richtung der Union: "Sie müssen sich schon entscheiden: Stehen Sie fest auf dem Boden des Grundgesetzes und treten Sie vorbehaltlos für wirkliche Religionsfreiheit ein, oder wollen Sie doch lieber eine christliche Staatsreligion?" Die FDP lobte Sharma hingegen, weil sie religiöse Überzeugungen als Leitbild für gesellschaftliche Integration offenbar ablehne. Sein Vorredner, FDP-Generalsekretär Christian Linder, hatte betont, dass es keinen Konflikt zwischen Staat und Religion geben dürfe. Erst der offene Raum der Republik eröffne den Menschen die Möglichkeit, "ihren individuellen Glauben zu stiften und zu leben".

Einig waren sich Koalition und Opposition trotz Kritik im Detail in zwei wichtigen Punkten. Erstens: Die Religions- und Glaubensfreiheit ist in vielen Ländern der Erde gefährdet. Zweitens: Die Türkei als Beitrittskandidat der EU muss die Rechte der Christen in ihrem Land anerkennen. Das machten Redner aller Fraktionen mit Blick auf die tägliche Diskriminierung der christlichen Minderheit am Bosporus deutlich.

Gäste auf der Tribüne

Wie brisant das Thema Religionsfreiheit ist, zeigte sich während der Debatte schon beim Blick auf die Zuschauertribüne des Bundestages: Dort saßen an diesem Freitagvormittag auch zahlreiche Vertreter von Religionsgemeinschaften. Darunter auf Einladung der Unionsfraktion auch der Bischof der chaldäisch-katholischen Kirche in Bagdad, Shlemon Warduni. Er habe, berichtete Erika Steinbach, der Fraktion vor der Plenarsitzung gesagt: "Wer nicht weiß, was die Hölle ist, der soll zu uns in den Irak kommen. Bei uns ist die Hölle."