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Parlamentarisches Profil : Protestieren als Bürgerrecht: Wolfgang Thierse

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
3 Min

Der 4. November 1989 in Ost-Berlin: Hunderttausende DDR-Bürger sind dem Aufruf von Künstlern und Intellektuellen gefolgt und haben sich auf dem Alexanderplatz versammelt. Es ist die größte Demon-stration in der Geschichte der DDR. Kreativ sind die Transparente der Teilnehmer: "Lasst Euch nicht engagieren, engagiert Euch!" steht darauf, "Weg mit dem Beton aus unseren Köpfen!" oder "Wende um 360 Grad? Wir wollen nicht hoffen!" Mittendrin: Wolfgang Thierse. Auch mehr als 20 Jahre später erinnert sich der SPD-Abgeordnete gerne an diesen Tag zurück: "Das war ein Ausbruch von Zivilcourage, von Witz, von der Überwindung unserer Angst", sagt er. "Es war ein wesentlicher Teil der friedlichen Revolution, dass wir grauen, hässlichen, kleinen, ängstlichen DDR-Bürger uns selber damit überrascht haben."

Seit der friedlichen Revolution sei er gewaltfreiem Protest gegenüber "prinzipiell positiv voreingenommen", bekennt Thierse. Das zeigte er auch am 1. Mai dieses Jahres, als er sich am an einer Sitzblockade gegen einen Aufmarsch der rechtsextremen NDP durch seinen Wahlkreis am Prenzlauer Berg in Berlin beteiligte. "Wir Demokraten haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, Aufmärsche von Neonazis nicht schweigend hinzunehmen", findet der Vizepräsident des Bundestages. Neben viel Sympathie für seine Teilnahme hagelte es damals auch Kritik: Sein Parteigenosse Ehrhart Körting, SPD-Innensenator in Berlin, bezeichnete Thierses Verhalten als "rechtswidrig", der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft warf ihm sogar vor, er würde"öffentlich Rechtsbruch zelebrieren". Thierse sieht solche Kritik gelassen: Das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit gelte "selbst für Bundestagsabgeordnete", und der genehmigte NPD-Aufmarsch habe sein Recht auf Demonstration ja nicht außer Kraft gesetzt.

Doch Thierse will Proteste und Demonstrationen an sich "weder verteufeln noch heiligsprechen". Auch wenn die Ablehnung von etwas politisches Engagement oft erst auslöse, müsse man im nächsten Schritt bereit sein zu gestalten - und Kompromisse einzugehen. So verlief auch der Werdegang Thierses: Als er im Oktober 1989 mit Hunderttausenden demonstrierend durch Ost-Berlin zog, war es die Ablehnung des Bestehenden, die alle Teilnehmer einte: "Wir waren uns einig, dass es so nicht weitergeht, mit Unfreiheit und Misswirtschaft und Gängelung und Einschüchterung." Doch nur dagegen zu sein, reichte dem damaligen Mitarbeiter des DDR-Zentralinstituts für Zeitgeschichte nicht aus: Anfang Oktober trat er in die Bürgerbewegung "Neues Forum" ein. Weil der neu gegründete Zusammenschluss dem damals 46-Jährigen nicht durchsetzungsfähig genug erschien, schloss er sich wenige Monate später der wieder auflebenden SPD in Ostdeutschland an. Bald stieg er zum Vorsitzender der Sozialdemokraten in der DDR auf, nach der Vereinigung mit der West-SPD auch dort zum stellvertretenden Vorsitzenden. Nach dem Wahlsieg Gerhard Schröders wählte ihn 1998 der Bundestag zu seinem Präsidenten. "Zum ersten Mal wurde ein Ostdeutscher in eines der hohen Ämter der gemeinsamen Republik gewählt", sagte er in seiner Antrittsrede. Bis 2005 füllte er diese Aufgabe aus - nicht ohne Konflikte: Als er gegen die CDU wegen der Parteispendenaffäre eine millionenschwere Strafe verhängte, kritisierten die Christdemokraten seine Amtsführung als parteiisch. Das Bundesverfassungsgericht gab ihm jedoch Recht.

Seit mehr als 20 Jahren ist Thierse inzwischen in der Politik aktiv. Doch wenn er von der Demokratie spricht, spürt man immer noch die Begeisterung eines Menschen, dem die Freiheit nicht in den Schoß gefallen, sondern der sich diese erst erkämpfen musste. Der heute 67-Jährige würde gerne mehr direktdemokratische Elemente einführen, Volksentscheide auch auf Bundesebene erlauben. Dadurch würden Entscheidungen zwar nicht einfacher, aber die Politik vielleicht "lebendiger", hofft er. Als die Schweizer mehrheitlich für ein Verbot von Minaretten stimmten, sei er zwar "erschrocken" gewesen. Doch er ist überzeugt: Wenn die Hürden für einen erfolgreichen Volksentscheid hoch genug angesetzt ist, könnten Populisten solche Abstimmungen nur schwer für sich instrumentalisieren.