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»Glauben Sie an den Menschen?«

PLEBISZITE Die Väter des Grundgesetzes waren der direkten Demokratie gegenüber mehr als skeptisch und befürchteten Missbrauch und Populismus. Daran änderte…

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
4 Min

Der eine dominierte die Debatten im Parlamentarischen Rat, der andere war dessen Präsident. Als Konrad Adenauer und Carlo Schmid einander zum ersten Mal begegneten, schloss sich ein langes Gespräch an, das Adenauer mit den Worten beendete: "Was uns beide unterscheidet, ist nicht nur das Alter, es ist noch etwas anderes: Sie glauben an den Menschen, ich glaube nicht an den Menschen und habe nie an den Menschen geglaubt." Ob Adenauer sich und sein Gegenüber davon ausnahm, ist nicht überliefert. Aber "noch nach Jahren", berichtet Carlo Schmid, "zog er mich bei Empfängen gelegentlich in eine Ecke, zeigte in die Runde und sprach lächelnd: Glauben Sie immer noch an den Menschen?"

»Prämie für Demagogen«

Es ist eine Binsenweisheit, dass eine Verfassung Menschenwerk ist. Auch das Grundgesetz, das der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949, vier Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reichs, verabschiedete, spiegelt die Lebenserfahrung, das juristische Begriffsvermögen und den politischen Hintergrund seiner Urheber. Der Gedanke, Möglichkeiten direkter Demokratie wie Volksabstimmungen oder Volksbegehren in das Grundgesetz aufzunehmen, wurde zwar im Parlamentarischen Rat diskutiert. Sie fanden sich auch schon in den Länderverfassungen. Die Väter des Grundgesetzes legten freilich eine auffallende Scheu an den Tag, das Thema weiter zu vertiefen. Es wird nur einmal, in Artikel 20, eher vage berührt, wo von Wahlen "und Abstimmungen" die Rede ist. Dass man es unterließ, Volksbewegungen durch direktdemokratische Elemente zu kanalisieren, hing unübersehbar mit der Erfahrung der Weimarer Republik und der Nazidiktatur zusammen. Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident, warnte damals, mit Volksinitiativen und Volksentscheiden "die künftige Demokratie zu belasten". Sie seien "eine Prämie für jeden Demagogen und die dauernde Erschütterung des mühsamen Ansehens, worum sich die Gesetzgebungskörper, die vom Volk gewählt sind, noch werden bemühen müssen, um es zu gewinnen".

Dieses strikt repräsentative Demokratieverständnis wurde vor allem von Schmids sozialdemokratischem Parteifreund Rudolf Katz vertreten, dem späteren ersten Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Katz widersetzte sich im Parlamentarischen Rat energisch allen Versuchen, plebiszitäre Elemente im Grundgesetz zu verankern - nicht ohne die bittere Erkenntnis anzuführen: "Wir wissen zu genau, dass hinter der Krise des demokratischen Systems der Diktator lauert."

Wegen seiner jüdischen Herkunft war Katz unter Hitler in die Emigration nach New York gezwungen worden. Dort hatte er sich eingehend mit dem amerikanischen Verfassungsrecht beschäftigt und dabei Lehren aus jener denkwürdigen Debatte gezogen, die der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung vor über 220 Jahren vorausgegangen war. Sie drehte sich im Grunde um das unterschiedliche Menschenbild der amerikanischen Verfassungsväter. Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, war von einem unerschütterlichen Glauben in das Gute im Volk beseelt und trat daher für die uneingeschränkte Geltung des Mehrheitsprinzips ein. Hingegen sahen die Autoren der legendären "Federalist Papers" um Alexander Hamilton und James Madison im Menschen ein fehlbares, nie bloß vernunftbestimmtes, sondern auch leidenschaftsgetriebenes Wesen, und daher in allen direktdemokratischen Bestrebungen die Gefahr der Tyrannei emotionsgesteuerter Mehrheiten. Misstrauen gegen die Macht, Misstrauen gegen ihre Träger und alle Aspiranten zur Macht war ihr beherrschendes Motiv. Durch ein System der "checks and balances" suchten sie möglichem Machtmissbrauch institutionell vorzubeugen. Plebiszite oder eine direkte Demokratie kamen für sie nicht in Frage.

Gefahr der Entfremdung

Das schließlich von den Vätern des Grundgesetzes ausgearbeitete System geteilter Macht folgte weitgehend diesen Vorstellungen. In der Folge spielten hierzulande selbst bei Konflikten, die einen spürbaren Ingrimm gegen Institutionen oder "die Politik" nach sich zogen, Forderungen nach einer Grundgesetzänderung im Sinne direktdemokratischer Teilhabe kaum eine Rolle. Dies gilt für die Wiederbewaffnung, die Notstandsgesetze, die Ostverträge oder die Raketen-Stationierung, die gegen den Widerstand erheblicher Teile der Bevölkerung durchgesetzt wurden.

Auch das Scheitern von Großprojekten wie dem Schnellen Brüter in Kalkar oder dem Transrapid in München führte nicht zum Ruf nach Volksabstimmungen. Zwar hatte der Historiker Golo Mann bereits Anfang der 1960er Jahre gefordert, es müsse "Kanäle geben, geplant oder doch wenigstens nicht unmöglich gemacht durch die Verfassung, möglich und wirklich gemacht durch lebendige praktische Politik, Kanäle, durch die alle gesellschaftlichen Kräfte (...) Einfluss auf die Gestaltung des Gesamtschicksals finden."

Doch selbst unter Bundeskanzler Willy Brandts (SPD) Label "Mehr Demokratie wagen" von der ersten sozialliberalen Koalition eingesetzte "Enquete-Kommission Verfassungsreform" des Bundestages erschöpfte sich in einer möglichst lückenlosen Sammlung von Argumenten gegen die Einführung direktdemokratischer Instrumente. Sie würden "Staat, Parlament und Volk" einander noch weiter "entfremden", wodurch das parlamentarische System einen Schaden nähme, der größer sei als "der Nutzen einer Verfassungsänderung". Der gelegentlich geäußerte Vorwurf, die Verweigerung einer Aufnahme direktdemokratischer Elemente in die Verfassung sei nichts weiter als ein Ausdruck des "Misstrauens gegenüber dem Volk", verkennt, dass auch die möglichen Initiatoren eines Volksentscheids nicht vor Machtmissbrauch gefeit wären: Sei es eine Minderheit, die sich im Parlament nicht durchzusetzen vermag, sei es die Regierung, die sich über parlamentarische Entscheidungen hinwegsetzen möchte oder sei es "die Mehrheit des Volks", die sich gegen eine Minderheit stellt.

Wer den drastischen Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen des Staates beklagt, sollte von der Ideenlosigkeit seiner Repräsentanten nicht schweigen. Der Publizist Johannes Gross nannte das den "Problemerkennungswiderstand" der politischen Klasse, der über dem der allgemeinen Öffentlichkeit liege.

Dass direktdemokratische Bestimmungen im Grundgesetz dem abhelfen würden, ist nirgends bewiesen. Aber dass der Bestand einer Demokratie nicht nur von einer Verfassung, sondern immer auch von der Qualität des politischen Personals abhängt, war den Vätern des Grundgesetzes wohl bewusst. Als Präsident des Preußischen Staatsrates hatte Konrad Adenauer aus nächster Nähe das Treiben gegen die Weimarer Demokratie beobachtet. Er führte ihren Ruin zurück auf die "Unfähigkeit und Mittelmäßigkeit der verantwortlichen Männer".