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»Demokratie ist anstrengend«

DOROTHEE BÄR UND BERND GUGGENBERGER Die stellvertretende CSU-Generalsekretärin und der Berliner Politikwissenschaftler über die vermeintlich neue…

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
7 Min

Frau Bär, Herr Guggenberger, wann waren Sie zuletzt auf einer Demonstration?

Dorothee Bär: Ich war ganz selten in meinem Leben überhaupt auf Demonstrationen. Bei der letzten - und vielleicht sogar ersten - Demonstration, auf der ich war, ging es um den Erhalt des Siemens-Standortes in meinem Wahlkreis, in Bad Neustadt an der Saale. Wir haben erreicht, dass neue Arbeitsplätze und Technologien gesichert werden konnten. Und ich war einmal mit den Gesamtbeschäftigten von Siemens vor der Hauptzentrale in München.

Bernd Guggenberger: Ich bin mehr oder weniger in einen kleinen Protestzug hineingeraten, der sich im Berliner Osten formiert hat. Da ging es um die Flugrouten vom Flughafen BBI aus und die Lärmbelästigungen. Ich dachte, dass das meiner eigenen Interessenwahrnehmung entgegen kommt und habe mit unterschrieben.

Viele Beobachter konstatieren im Moment, dass die Protestbewegungen zunehmen: Antiatomproteste, Infrastrukturproteste oder Proteste gegen den Stromtrassenbau in vielen Gegenden. Teilen Sie den Befund?

Guggenberger: Das ist etwas, was es in den 70er- und 80er-Jahren schon in viel höherem Maße gegeben hat als heute. Damals, in den Hochzeiten der Bürgerinitiativ-Bewegung gab es bis zu 20.000 einzelne Initiativen mit bis zu 12 Millionen Teilnehmern - also vier- bis fünfmal mehr als die Parteien damals Mitglieder hatten. Die große Aufregung gegenwärtig hängt mit etwas anderem zusammen, nämlich mit dem Adjektiv "bürgerlich". Zum ersten Mal merken die bürgerlichen Parteien, dass ihre eigene Stammkundschaft mitmarschiert. Das macht sie aufgeregt und lässt sie zornig werden oder nachdenklich - je nachdem.

Frau Bär, sehen Sie diese Dinge genauso?

Bär: Den ersten Teil der Analyse teile ich, den zweiten nicht. Die Demonstrationen früher bei der Startbahn West oder in Wackersdorf gegen die Wiederaufbereitungsanlage waren zahlenmäßig viel stärker. Aber ob damals nicht auch so genannte Bürgerliche dabei waren? Immer da, wo es persönliche Betroffenheiten vor Ort gibt, sind alle gemeinsam auf der Straße. Die allerbürgerlichste Bewegung überhaupt, in der vom CSU-Ortsverband bis zum Bund Naturschutz alle gemeinsam demonstrieren, habe ich bei mir im Wahlkreis. Da geht es um eine Ortsumgehung und die Umweltschützer schließen sich mit allen Parteien zusammen. Da ist der ganze Ort eine einzige Bürgerinitiative.

Guggenberger: Proteste und Bürgerengagement waren immer ein Mittelschichtphänomen, vor 30 Jahren genauso wie heute. Nur hatten die damals lange Bärte und zotteliges Haar, deshalb fiel es nicht so auf. Heute sind diese Leute älter: Die 68-er werden 68. Es gibt innerhalb der protestierenden Gruppierungen eine große Kontinuität. Wer in Stuttgart demonstriert, hat oft schon eine Protestkarriere durchlaufen.

Bär: Das Spannende ist, dass aus diesen Bürgerinitiativen eine Partei wie die Grünen entstanden ist. Ich habe kein Problem damit, wenn sich aus solchen Protesten eine demokratisch legitime Partei entwickeln sollte. Aber neulich habe ich auf einer Podiumsdiskussion mit einem 19-Jährigen diskutiert. Er sagte, er mache ausschließlich außerparlamentarische Opposition und Demokratie heiße für ihn, auf die Straße und nicht einmal wählen zu gehen. Darin sehe ich keinen Sinn. Demokratie ist anstrengend und erfordert Kompromisse. Aber wenn ich das nicht will, muss ich letztlich in einer Diktatur leben: Dann bestimmt nur einer - ob ich das selbst bin und ob das wirklich die bessere Alternative ist, ist fraglich.

Leute, die keine Kompromisse eingehen wollen und Parteien deshalb meiden, machen es sich also zu einfach?

Bär: Es gibt Gewissensentscheidungen etwa über Auslandseinsätze der Bundeswehr oder Debatten wie die Präimplantationsdiagnostik, die man nicht rückgängig machen kann. Bei Personalentscheidungen oder etwa der Gesundheitsreform sind Kompromisse möglich. Das kann man in anderen politischen Konstellationen rückgängig machen.

Inwiefern sind Bürgerinitiativen Herausforderungen für die parlamentarische Demokratie?

Bär: Bürgerinitiativen beschäftigen sich häufig nur mit einem Thema, während Volksparteien alle Themen abdecken müssen von der Entwicklungshilfepolitik über die innere Sicherheit bis hin zur Sozialpolitik. Initiativen lösen sich oft auf, sobald ihr Ziel erreicht ist, während das Engagement in einer Partei darauf angelegt ist, bis zum 50-jährigen Mitgliedsjubiläum dabeizubleiben. Solange das so ist, sehe ich Bürgerinitiativen nicht als wirkliche Konkurrenz zu den etablierten Parteien.

Herr Guggenberger, sind denn wirklich immer weniger Menschen bereit, sich in Strukturen einbinden zu lassen?

Guggenberger: In der Politik war es schon immer so, dass sich einzelne Akteure über etwas empören und Initiativen starten. Parteien sind ursprünglich Empörungsgemeinschaften, auch wenn die CSU nicht mehr so zornig ist wie früher und die SPD nicht mehr die Vorkämpferin für die Arbeitnehmermassen. Ich verwahre mich gegen die Annahme, dass auf der einen Seite Parteien stehen, die das große Ganze im Blick haben, und auf der anderen Seite die regellosen Horden auf der Straße. Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Der Bürgersouverän schläft nicht einfach für die nächsten vier Jahre ein, nachdem er artig seine Stimme abgeben hat. Die Parteien müssten sich freuen über aktive Bürger. Bürgerlichen Ungehorsam üben, auch das ist Demokratie. Dass sie das aushält, macht sie der Diktatur so überlegen.

Bär: Ich habe nichts gegen Demonstrationen. Im Gegenteil. Sie sind ein Grundrecht unserer Verfassung. Die Frage ist, ob ich Demos zu meiner Lebensaufgabe mache oder mich auch darüber hinaus engagiere, sei es in einer Partei oder auf kommunaler Ebene.

Guggenberger: Man sollte Bewegungspolitik und Gestaltungspolitik nicht gegeneinander ausspielen. Beide ergänzen sich. Anstoß nehmen heißt in einer funktionierenden repräsentativen Demokratie immer auch Anstoß geben!

Viele Demonstranten beklagen sich über die Abgehobenheit der etablierten Parteien. Ist das berechtigt?

Bär: Schon im alten Rom wurde Politikern Abgehobenheit vorgeworfen. Jeder Kollege hat im Wahlkreis die Erfahrung gemacht, dass Gemeinplätze über "die" Politiker verteilt wurden und dann gesagt wurde: Das geht nicht gegen Sie persönlich. Was ich rund um Stuttgart 21 spannend fand, war, dass plötzlich auch die demonstrierende Masse gemerkt hat, wie schwierig es ist, sich untereinander zu einigen, als die Schlichtung anstand. Erst wenn man sich an einen Tisch setzt und den anderen ausreden lässt, merkt dann, was es bedeutet, sich mit anderen Argumenten auseinander setzen zu müssen. Zudem hat die Gegner zuerst ihr "Dagegen" geeint. Im Detail waren dann aber riesengroße Unterschiede spürbar.

Zeigt das den Sinn von Repräsentation und gewählten Vertretern?

Bär: Es können nicht 80 Millionen über jedes Thema abstimmen, das ist nicht praxistauglich. Man muss aber prüfen, wie die repräsentative Demokratie ergänzt werden kann - etwa im Bereich E-Petitionen oder über das Internet. Denkbar ist, dass ab einer bestimmten Zahl von Unterstützern eine Ausschussberatung oder eine aktuelle Stunde im Bundestag erzwungen werden kann. Wenn jemand sich wirklich engagieren will, reicht es nicht, wenn er nur alle vier Jahre seine Meinung kundtun darf.

Guggenberger: Mit Blick auf die Internet-Demokratie bin ich anderer Meinung. Anwesenheitsdemokratie ist nicht dadurch zu ersetzen, dass man sich bequem zwischen Teleshopping und der nächsten Family-Soap einklinkt. Wer nur einen Klick macht, bringt weniger Intensität und Engagement ein als der, der seinen Einsatz beglaubigt, indem er zu einer Parteiversammlung oder einer Demonstration geht.

Bär: Viele können aber nicht hingehen, weil sie alt sind oder behindert oder Kinder haben. Diese Beteiligungsformen könnten ein zusätzliches Element sein.

Guggenberger: Was mir bislang zu kurz kommt, sind die anderen, stilleren Formen der Bürgerinitiativen. Da leisten Zehntausende großartige Arbeit, die die Politik gar nicht bezahlen könnte: Lernhilfen für Ausländer oder Pflegedienste im Bereich des Ehrenamtes. Bürgerinitiativen sind vielfach "Inhalte ohne Form", Parteien dagegen oft erstarrte Formen, deren eigentliche Botschaft dunkel geworden ist. Aus beidem zusammen ergibt sich unterm Strich lebendige Demokratie. Es reicht nicht, über pflichtvergessene oder korrupte Politiker zu schimpfen. Die Wahrheit ist: Wir haben nicht nur mäßige Politiker, wir sind auch meist ein mäßiges Volk.

Bär: Zu Ihrer Idealvorstellung des Parlaments gehört auch eine Idealvorstellung des Volkes - aber in der Praxis ist es doch so, dass Wähler an der Urne überlegen, was ihnen am meisten bringt. Es geht nicht darum, was gut für kommende Generationen wäre. Da bekomme ich zu hören: Wenn diese Umgehungsstraße nicht kommt, dann wähle ich Sie nicht mehr. Die Wahlentscheidung hat in der Regel wenig damit zu tun, wie unser Land gerade dasteht oder damit, dass wir seit über 60 Jahren Frieden im eigenen Land haben.

Die Bürger müssten also das große Ganze sehen und nicht nur die eigene Befindlichkeit?

Guggenberger: Nur nach der Beurteilung der Frage, was mir am meisten bringt, ist auf Dauer kein demokratischer Staat zu machen. Meine Frau ist Abgeordnete in der Schweiz. Vor ein paar Jahren wurde dort über die Müllentsorgung abgestimmt und es gibt wohl nirgends auf der Welt eine so kompetente Wahl-Bevölkerung, was die Probleme der Müllentsorgung anbelangt wie in der Schweiz. Es gibt eben keinen besseren Lehrmeister als persönliche Betroffenheit und die Pflicht und den Zwang, sachpolitisch entscheiden zu müssen.

Bär: Das merke ich gerade unter meinen Kolleginnen und Kollegen bei der Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik. Wenn sich der einzelne Abgeordnete nicht hinter seiner Fraktion verstecken kann und sich zu dem Thema selbst eine Meinung bilden und abstimmen muss, kann man ungeheuer viel lernen. Das geht aber nicht täglich bei 100 verschiedenen Themen - leider Gottes.

Das Interview führten Susanne Kailitz und Kata Kottra