GEGEN VOLKSENTSCHEIDE AUF BUNDESEBENEGastkommentar : Falsche Mehrheiten
Volksentscheid - das klingt so wunderbar nach mehr Demokratie. Das Wort klingt sogar nach der wahren Demokratie. Es suggeriert, ein Parlament sei nur die unvollkommene Vorstufe zu ihr. Das Gegenteil ist wahr. Parlamente sind aus dem Hunderte Jahre alten Wunsch entstanden, die Bevormundung durch Wenige zu beenden. Volksentscheide sind ein Schritt zurück in solche vorparlamentarischen Sitten. Volksentscheide sind ein Werkzeug für Minderheiten, ihren Willen der Mehrheit aufzuzwingen. Jüngste Beispiel sind das Hamburger Volksbegehren gegen die erweiterte Grundschule und der bayerische Volksentscheid für den absoluten Nichtraucherschutz. In Hamburg haben weniger als ein Viertel der Wahlberechtigten mit Ja gestimmt. In Bayern waren es sogar nur vierzehn Prozent. Im Fall Hamburg wurde ein Allparteien-Kompromiss des Landesparlaments von einem knappen Viertel der Wahlberechtigten ausgehebelt. Die Fraktionen, die den Kompromiss getragen hatten, repräsentierten zusammen knapp 60 Prozent der Wahlberechtigten. Beim Volksentscheid gibt es "Mehrheiten", die diese Bezeichnung nicht verdienen.
Parlamente mögen wie Intrigantenstadl erscheinen, und es gibt Gesetze, die ebenfalls mit nur sehr wenigen Stimmen Mehrheit verabschiedet werden. Plebiszite aber sind bei komplizierten Fragen die Antwort derer, die glauben, eine differenzierte Sichtweise sei eine Schwäche der Politik. Wenn über Stuttgart 21 eine Volksabstimmung rechtlich möglich gewesen wäre, hätte es die Schlichtung nicht gegeben. Außerdem würde allein die Aussicht, ein Projekt je nach Stimmungslage urplötzlich durch ein Plebiszit gekippt zu sehen, Investoren vor Deutschland zurückschrecken lassen.