Piwik Webtracking Image

Rückkehr fraglich

JAPAN Die Lage im Kernkraftwerk Fukushima bleibt kritisch - und in Tokio beginnt die Atomdebatte

28.03.2011
2023-08-30T12:16:40.7200Z
4 Min

Es war ein kleiner Trupp, der sich am Dienstag morgen vor der Bibliothek der Tanglin Trust Schule in Singapur versammelte. Es waren offenkundig Schüler, doch sie trugen nicht die obligatorische Uniform. Ihre eigene wäre auch fehl am Platz gewesen, denn es wäre die der British School Tokyo (BST) gewesen, die die Kinder normalerweise besuchen. Doch diese Normalität endete am 11. März. Jenem Tag, an dem Erdbeben, Tsunami und Katastrophenalarm im Kernkraftwerk Fukushima Japan aus den Angeln hoben und viele Ausländer dazu bewegte, das Land vorerst zu verlassen.

Bedrückende Unsicherheit

Etliche sind in Singapur gestrandet, wo BST-Schüler nun einen fünfstündigen, klassenübergreifenden Notunterricht besuchen können. Die Eltern sind dankbar, doch die Situation ist bizarr. "Ich bin zwar aus Singapur und wohne jetzt bei meiner Mutter, aber ich möchte eigentlich so schnell wie möglich zurück nach Tokio. Mein Mann ist dortgeblieben, und es ist nun mal unser Zuhause. Aber die Unsicherheit wegen der Entwicklung in Fukushima bedrückt mich", sagt Pamela Anderson.

Unsicherheit - das empfinden derzeit alle, die von der Situation im Atomkraftwerk Fukushima betroffen sind oder sein könnten. Wie unterschiedlich die Einschätzungen sind, zeigt sich beispielhaft am Verhalten der Auslandsvertretungen in Tokio. Während die Deutsche Botschaft am 18. März nach Osaka umzog und der Botschafter am vergangenen Mittwoch alle Landsleute erneut dazu aufforderte, den Großraum Tokio/Yokohama und alle Gebiete nordöstlich davon zu meiden, haben die Italiener bisher in Tokio durchgehalten. Die Briten blieben ebenfalls, legten ihren Landsleuten lediglich diplomatisch nahe, "zu überprüfen, ob ihre Anwesenheit in Tokio unbedingt notwendig ist".

Achterbahnfahrt

Eine klare Empfehlung auszusprechen, fällt zweifelsohne schwer. Die Nachrichtenlage über die Entwicklung in den sechs Reaktoren in Fukushima gleicht einer Achterbahn. Auf der Habenseite steht, dass seit vergangenem Dienstag alle sechs Reaktoranlagen wieder mit Strom versorgt werden. Das ist ein Fortschritt, bisher aber keineswegs die Lösung aller Probleme. Der AKW-Betreiber Tepco Electric Power Co (Tepco) warnte vor zu großen Hoffnungen: Es würde noch Tage dauern, bis alle Pumpen, Motoren und andere Geräte überprüft seien. Erst dann könnten hoffentlich die Kühlsysteme wieder angefahren werden, die ausgefallen waren, nachdem erst das Erdbeben und dann der gewaltige Tsunami das Kernkraftwerk erschüttert hatten, erklärte ein Sprecher. Bis dahin müssen die überhitzten Anlagen weiter mit Meerwasser gekühlt werden.

Und es gibt eine Menge zu kühlen, denn nach und nach sickerte durch, dass in Fukushima deutlich mehr abgebrannte Uran-Brennstäbe gelagert waren, als offiziell erlaubt. Nur zehn Tage vor dem Erdbeben hatte Tepco zudem vor der Aufsichtsbehörde zugeben müssen, bei Wartungsarbeiten geschlampt zu haben: 33 Teile an den sechs Meilern, darunter Kühlsysteme und Nostromaggregate seien nicht inspziert worden. Trotz Sicherheitsbedenken hatte die japanische Regierung einen Monat vor dem Erdbeben die Betriebserlaubnis für den ältesten der Fukushima-Reaktoren um zehn Jahre verlängert.

Atomkraft auf dem Prüfstand

Kritiker warfen Tepco und den zuständigen Behörden enge Verflechtungen und Interessenkonflikte vor. Einer von ihnen ist Taro Kono. Der Abgeordnete der liberaldemokratischen Partei (LDP) und erklärter Atomkraftgegner wetterte in einem Zeitungsinterview: "Mir war schon lange klar, dass das ganze System Mist ist. Wir müssen unser gesamtes Atomprogramm neu definieren nach diesem Desaster. Niemand in Japan wird mehr Atommüll in seinem Hinterhof akzeptieren." Der mächtige Stromgigant Tepco müsse von Grund auf neu organisiert werden. Für die Zukunft glaubt der LDP-Politiker: "Unsere bisherige Atompolitik wird zur Debatte stehen, sobald das hier vorbei ist."

Das wird aber wohl nicht so rasch der Fall sein. Täglich gab es vergangene Woche Meldungen von erneut aufsteigenden Rauchwolken aus einem der angeschlagenen Atommeiler. Schlagzeilen von überhöhten radioaktiven Werten in einigen Gemüsesorten und Milch aus der Gegend von Fukushima, von stark verstrahltem Meerwasser und belastetem Leitungswasser in der etwa 240 Kilometer entfernten Hauptstadt Tokio wechselten sich ab.

Asiatische Nachbarländer wie Hongkong reagierten ebenso wie die USA mit Importeinschränkungen für japanische Lebensmittel aus der Region um Fukushima, andere Staaten überprüfen Gemüse, Fisch und Milchprodukte auf Radioaktivität. Viele Verbraucher haben beschlossen, dass ihnen Lebensmittel aus Japan derzeit nicht geheuer sind. Wie die "Straits Times" (Singapur) am vergangenen Donnerstag berichtete, klagten Betreiber japanischer Restaurants oder Supermärkte über eine stark gesunkene Nachfrage.

Diese Umsatzrückgänge sind freilich verschwindend im Vergleich zu dem wirtschaftlichen Schaden, der Japan durch die Dreifach-Katastrophe entstanden ist. Der Chef-Volkswirt der Weltbank, Justin Yifu, schätzte ihn vergangenen Woche auf 120 bis 230 Milliarden US-Dollar.

Japanische Global Player wie Sony, Honda, Toyota oder Nikon können seit dem 11. März wegen mangelnder Stromversorgung kaum oder gar nicht produzieren. Ohne Strom sind auch weiterhin mehr als 200.000 Haushalte in den Tsunamigebieten. Hundertausende Menschen konnten zwar ihr Leben retten, haben aber alles andere verloren.

Ungewissheit

Sie leben weiterhin in Notaufnahmelagern und hoffen, dass dieser Albtraum bald ein Ende nimmt. Wann das sein wird, weiß keiner. Es ist auch diese Ungewissheit, die das Leben für die Evakuierten und Überlebenden der Katastrophe in Japan so schwierig macht. "Niemand kann uns sagen, ob es Tage, Wochen oder Monate dauern wird, bis wir in unsere Häuser zurückkehren können", sagte ein Ladenbesitzer einem lokalen Sender. Sein Geschäft ist nur wenige Kilometer vom AKW Fukushima entfernt. Vermutlich ahnt der Mann, dass er dort möglichweiser nie wieder hinter dem Tresen stehen wird.

Die Korrespondentin des Journlistennetzwerks Weltreporter berichtet aus Tokio. Im Augenblick hält sie sich in Singapur auf.