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Unabhängig und unbequem

RITA SÜSSMUTH (1988 - 1998) Eine Seiteneinsteigerin wird erste gesamtdeutsche Parlamentspräsidentin

26.04.2011
2023-08-30T12:16:42.7200Z
6 Min

Manche Namen sind mehr als Schall und Rauch. Sie können die Wahl des künftigen Berufes beeinflussen oder sogar einer Berufung entsprechen. Das haben Sprachwissenschaftler herausgefunden. Insofern passen Geburts- und Ehenamen der Professorin und Politikerin Rita Süssmuth zu ihr. Sie wurde am 17. Februar 1937 in Wuppertal in der Pädagogen-Familie Kickuth geboren. Das niederdeutsche Wort Kickuth verheißt Ausblick, vielleicht sogar Weitblick - was Fehler nicht ausschließt. Und der Namen ihres Mannes, des Historikers und Professor Hans Süssmuth, entspricht ihrem Charakter und Verhalten: Süssmuth könnte man ins Lateinische übersetzen: "Suaviter in modo, fortiter in re" - angenehm in der Art und Weise des Vorgehens, aber hart in der Sache.

Seiteneinsteigerin

Dem hat Rita Süssmuth mehrmals in ihrem Leben entsprochen. Das hat nicht zuletzt der frühere Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende Helmut Kohl erfahren. Der täuschte sich in ihrer Gefügigkeit ebenso wie bei seinem zeitweiligen "Mädche" Angela Merkel. Die eine, Süssmuth, hatte ihn im Bunde mit Heiner Geißler, Kurt Biedenkopf und Lothar Späth 1989 vor der friedlichen Revolution in der DDR stürzen wollen. Die andere stieß den Kanzler der deutschen Einheit nach dessen Spendenaffäre immerhin vom Thron des CDU-Ehrenvorsitzenden. Kohl pflegte solche Emanzipation von ihm mit einem Satz seiner Großmutter zu kommentieren: "Die Hand, die segnet, wird zuerst gebissen."

Aber Rita Süssmuth wollte eigentlich nicht beißen. Sie wollte sich stets "nur" behaupten. Nachdem sie sich in der Politik als Seiteneinsteigerin auch ohne Frauenquote durchgesetzt hatte, trat sie als Vorsitzende der Frauen-Union hartnäckig für diese garantierte Förderung ein und wurde dadurch zur "Mutter" des Erfolges mancher Frau.

Charakterisiert ist sie durch den Titel einer ihrer Publikationen: "Wer nicht kämpft, hat schon verloren." Sie war im Grunde nie die "lovely Rita", als die sie in Anlehnung an einen Beatles-Song bisweilen gesehen wurde. Obwohl ihre unverkrampfte Art, über Sexualität zu sprechen und im Falle von Aids als Gesundheitsministerin mitfühlend zu handeln, durchaus solche halb ironischen Attribute rechtfertigte. Für sie ist katholisch und zugleich liberal zu sein, wertkonservativ und progressiv je nach Sachgerechtigkeit, kein Widerspruch. Im Gegenteil: Sie empfindet Christsein als Freiheit.

Parteiloses Engagement

Rita Süssmuth war schon jemand, bevor sie eine führende Politikerin wurde: also auch ein Gegenbild von zu vielen einspurigen Laufbahnen der Berufspolitik, die ohne "normalen" Beruf außerhalb der Politik zum politischen Ziel kommen wollen und kommen. Nach dem Abitur am Neusprachlichen Gymnasium im westfälischen Rheine studierte sie Romanistik und Geschichte in Münster, Tübingen und Paris - was ihr einen weiteren Horizont öffnete als es einer Nesthockerin möglich gewesen wäre. Dem Staatsexamen für das Lehramt am Gymnasium folgte in Münster ein Postgraduiertenstudium in Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie. Nach Promotion und Assistentendienst in Stuttgart und Osnabrück war sie ab 1966 Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Ruhr. 1969 wurde sie Wissenschaftliche Rätin und dann Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. 1973 bekam sie dort den Lehrstuhl für international vergleichende Erziehungswissenschaft.

Gleichzeitig engagierte sie sich, noch parteilos, in Gesellschaft und Kirche: bei der Beratung des Bonner Familienministeriums, 1982 bis 1985 als Direktorin des Forschungsinstituts "Frau und Gesellschaft", als Vorsitzende der Kommission "Ehe und Familie" im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken und als Vizepräsidentin des Familienbundes der Deutschen Katholiken.

Erfolge auch ohne Mandat

1981 trat sie in die CDU ein. Ihre regen Aktivitäten in Bonn ließen zunächst keinen machtpolitischen Ehrgeiz, sondern vor allem Fachkompetenz erkennen, zum Beispiel als Vorsitzende des Fachausschusses der CDU für Familienpolitik und an der Spitze der 7. Jugendberichtskommission der Bundesregierung. Dadurch wurde der damalige Bundesfamilienminister Heiner Geißler (CDU) auf sie aufmerksam. Der weckte in der CDU Interesse an der Frauenpolitik. Deshalb war es für Fachleute keine Überraschung, dass Geißler sie 1985 bei dem ihm damals noch gewogenen Kanzler Kohl als seine Nachfolgerin im Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit durchsetzte, in dessen Bezeichnung sie 1987 zusätzlich den Bereich "Frauen" festschreiben ließ.

Sie strebte eine umfassendere Gesundheitspolitik an, verteidigte den Versicherungsschutz bei Abtreibungen, trat für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Wahlfreiheit der Frauen hierbei ein. Sie erreichte im Bunde mit Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) und CDU-Generalsekretär Geißler die Erweiterung des Familienlastenausgleichs um die Pflege kranker und alter Menschen, die Einführung eines Erziehungsgeldes von 600 D-Mark für alle Mütter und Väter und die Anerkennung eines "Babyjahres" durch die Rentenversicherung. Und dies noch ohne Bundestagsmandat - aber innerparteilich abgesichert, indem sie 1986 Vorsitzende der CDU-Frauen wurde (bis 2002) und dem Parteipräsidium der CDU von 1987 bis 1998 angehörte.

Einzug ins Parlament

Erst bei der Bundestagswahl am 25. Januar 1987 gewann sie in Göttingen klar ein Direktmandat - dem Parlament gehörte sie seither bis 2002 an. Die Mitgliedschaft im Bundestag stärkte ihre Stellung in der CDU/CSU/FDP-Regierung, wodurch sie auch im Volk populär wurde und zeitweise zur "beliebtesten Politikerin Deutschlands" aufstieg. Die "Welt" schrieb über jene Zeit, dass sie "in ihrer Person wertkonservative Grundprinzipien und die Freiheitssehnsüchte der 68er Generation verband". Das äußerte sich in ihrer Haltung zu Aids und in der Drogenpolitik. Bei Aids setzte sie gegen Widerstände in der Union auf Aufklärung und Hilfe statt auf Ausgrenzung oder "seuchenpolizeiliche Maßnahmen". Neue Wege angesichts von Drogensucht beschritt sie mit der Formel: "Milde für Süchtige, Härte gegen Dealer". Auf anderen Feldern wie der Verfolgung von Vergewaltigung in der Ehe oder einem liberalen Beratungsgesetz bei Abtreibungen setzte sich die "Unruhestifterin des Kabinetts" in der Union nicht durch.

Zehn Jahre Präsidentin

Deshalb hieß es nach dem Rückstritt des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger (CDU) wegen seiner unglücklichen Rede zum Pogrom vom 9. November 1938, als Kohl die zuerst widerstrebende Süssmuth als Nachfolgerin in die Pflicht nahm, sie werde nun "weggelobt". Nach ihrer Wahl zur Bundestagspräsidentin am 26. November 1988 blieb sie - trotz eines missglückten Ausflugversuches in die niedersächsische Landespolitik - zehn sie und das Amt prägende Jahre Hausherrin im Bonner Bundeshaus und die loyale Gestalterin des Umzuges in das Berliner Reichstagsgebäude, obwohl oder gerade weil sie am 20. Juni 1991 im Bundestag für Bonn als Parlamentssitz gestimmt hatte (siehe Seite 14). Das passt zu der zu wenig im öffentlichen Bewusstsein verankerten Tatsache, dass sie die Parlamentspräsidentin der Einheit, die erste gesamtdeutsche Bundestagspräsidentin ist - was auch ein Hinweis mehr auf die zu geringe Wahrnehmung des Parlaments in der veröffentlichten und damit der öffentlichen Meinung ist.

Wie sehr sie selbst mit dieser historischen Aufgabe und Leistung verbunden bleibt, äußerte sie in einem Interview mit dieser Zeitung (Ausgabe 46 vom 9.11.2009). Dazu gehört ihr gemeinsamer Israel-Besuch mit der demokratisch gewählten DDR-Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) im Juni 1990, als Süssmuth noch nicht wusste, dass sie am 4. Oktober 1990 mit erkennbarer innerer Bewegung die erste gesamtdeutsche Bundestagssitzung in Berlin leiten würde. Dazu gehört auch ihr Besuch bei Michail Gorbatschow am 19. Oktober 1989 in Moskau, zusammen mit dem damaligen französischen Parlamentspräsidenten Laurent Fabius. Damals, noch vor dem Mauerfall, nahm sie vor allem das Signal mit, dass Gorbatschow schon den Begriff Konföderation für die beiden deutschen Staaten gebrauchte. Was auch Kanzler Kohl zu seinem Zehn-Punkte-Programm ermutigt haben mag, über dessen historische Leistung für Einheit und Freiheit Deutschlands sich Süssmuth später trotz aller Konflikte mit ihm anerkennend äußerte.

Sie war in ihren zehn Amtsjahren eine unabhängige und unbequeme Präsidentin und eine zu Aktualisierung drängende Parlamentsreformerin. Inhaltlich konnte sie sich in wichtigen Streitfragen wie der Reform des Abtreibungsrechts oder der frühen Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, in der Union zunächst nicht durchsetzen. Ihr Ansehen überdauerte indes sogar "Affären" wie die um die Dienstwagennutzung ihres Mannes oder die der Flugbereitschaft der Bundeswehr für einen Besuch bei ihrer Tochter in Zürich. Beide Male wurde Süssmuth von Bundestagsverwaltung und Ältestenrat entlastet.

Kein Ruhestand

Nach der Bundestagswahl 1998 folgte ihr der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse an der Parlamentsspitze nach; 2002 verzichtete sie auf eine abermalige Kandidatur zum Bundestag. In den Ruhestand ging sie damit keineswegs, sondern setzte etwa die mit Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) begonnene Arbeit an der Zuwanderungsproblematik fort, abermals zum Ärger von Teilen der Union, und pflegte weiter internationale Kontakte wie zu Polen und Israel. Der Beweggrund für ihren Unruhestand entspricht dem Titel eines ihrer jüngsten Bücher: "Dennoch: Der Mensch geht vor. Für eine Umkehr in Politik und Gesellschaft."

Lesen Sie im nächsten Teil der Serie: Wolfgang Thierse

Helmut Herles war langjähriger Parlaments-

korrespondent der "F.A.Z." und Chefredakteur des Bonner "General-Anzeiger".