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Die blutige Bilanz des Grenzregimes ist noch offen

OPFER Auch heute ist nicht vollständig geklärt, wie viele Menschen an den innerdeutschen Grenzen ums Leben gekommen sind

01.08.2011
2023-08-30T12:16:47.7200Z
3 Min

Sie wollten politischer Repression entfliehen oder hofften auf mehr Wohlstand oder strebten zu Angehörigen im anderen Teil Deutschlands - die Gründe, aus denen Menschen der DDR den Rücken kehren wollten, sind so vielfältig wie die Umstände, bei denen viele von ihnen an den innerdeutschen Grenzen zu Tode kamen: Sie wurden erschossen oder verbluteten an ihren Verletzungen. Sie wurden von Minen zerfetzt oder ertranken in der Ostsee oder anderen Gewässern. Sie verunglückten tödlich beim Versuch, die Sperranlagen zu überwinden. Oder sie nahmen sich angesichts des Scheiterns ihres Fluchtversuches das Leben.

Abweichende Kriterien

. Die Zahlenangaben darüber, wie viele Menschenleben das Grenzregime der SED-Diktatur in den vier Jahrzehnten ihres Bestehens forderte, sind unterschiedlich und schwanken im Laufe der Jahre nach der deutschen Einheit. Das liegt zum einen an unzureichenden Quellenangaben, zum anderen an den voneinander abweichenden Kriterien für die Zählung der Todesopfer.

Das von der "Arbeitsgemeinschaft 13. August" in Berlin betriebene Mauermuseum "Haus am Checkpoint Charlie", das jährlich zum 13. August die von ihm recherchierte Zahl der Opfer des Grenzregimes zwischen 1945 und 1989 präsentiert, bezifferte im vergangenen Jahr die Zahl der teilungsbedingten Todesopfer in Berlin und an der Mauer auf 321. An der 1.378,1 Kilometer langen innerdeutschen Grenze kamen nach diesen Angaben zwischen 1945 und 1989 insgesamt 661 Menschen ums Leben, zudem 187 bei der Flucht über die Ostsee. Experten wie der Historiker Hans-Hermann Hertle vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) halten indes die von der Arbeitsgemeinschaft geführte Liste für ungenau, da in vielen Fällen weder Identität noch Todesumstände ausreichend geklärt seien.

Die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter gab die Zahl der durch Schusswaffeneinsatz, Minen und Selbstschussanlagen getöteten Menschen laut Hertle in einer 1991 vorgelegten Bilanz mit 197 an, von denen 78 seit dem Mauerbau in Berlin ums Leben kamen. In einer überarbeiteten Fassung habe sich diese Zahl auf insgesamt 274 erhöht. Davon entfielen im Zeitraum von 1949 bis 1989 auf die innerdeutsche Grenze 160 Opfer, auf die Berliner Mauer 114 Tote.

Die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) nannte in ihrem letzten Jahresbericht eine Zahl von insgesamt 421 Personen, die "aufgrund einer strafrechtlich verfolgten Handlung oder Unterlassung" ums Leben gekommen seien. Für Berlin ermittelte die ZERV 152 Todesopfer, 30 vor und 122 nach dem Mauerbau.

Die bisher verlässlichsten Angaben für die Berliner Verhältnisse bietet das vom ZZF und der Stiftung Berliner Mauer 2009 herausgegebene biografische Handbuch "Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989". Die Autoren werteten systematisch Akten der Staatsanwaltschaft, Stasi-Dokumente und andere Quellen aus und sprachen mit Zeitzeugen.

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass mindestens 136 Menschen nachweislich an der Mauer ums Leben kamen: 98 Flüchtlinge aus der DDR, von denen 67 erschossen wurden, während die anderen verunglückten oder sich selbst nach gescheiterter Flucht töteten. Hinzu kommen 30 Menschen aus Ost und West, die wohl ohne Fluchtabsicht waren, aber gleichwohl erschossen wurden oder tödlich verunglückten. Zu diesen zählen auch fünf West-Berliner Kinder, die in die Spree gefallen waren und nicht gerettet werden konnten. Als Todesopfer werden ferner acht DDR-Grenzsoldaten gezählt, die durch Deserteure, Kameraden, einen Flüchtling, einen Fluchthelfer und einen West-Berliner Polizisten getötet wurden. Mindestens 251 überwiegend ältere Menschen, die nicht zu den Grenztoten im engeren Sinne gehören, starben bei Kontrollen an Berliner Grenzübergängen, vorwiegend infolge eines Herzinfarktes.

Nach den Worten Hertles fehlen nach wie vor verlässliche Angaben zu den an der innerdeutschen Grenze ums Leben gekommenen Menschen. Dazu seien noch intensive Nachforschungen nötig, die dabei erforderliche Förderung durch Bund und Länder aber noch nicht in Sicht.

Der Autor war langjähriger

DDR-Korrespondent der

"Süddeutschen Zeitung" und des "Stern".